Schützenzeitung 29. Juli 1890

Wer mit dem Dampfboote an hellen Tagen von Stein a.Rh. her auf dem lieblichen Bodensee fährt, der sieht gar bald am linken Seeufer eine weit in den See hinaus ragende Häusermasse (überragt von 3 Thürmen und ein Bau mit vielen Kuppeln), das ist das Städtchen Steckborn. Je näher man kommt, desto hübscher hebt sich das Bild ab von dem waldreichen hügeligen Hintergrund, aus den Weinbergen und dem Kranze von gewaltigen Fruchtbäumen. Das Städtchen selber verliert beim Näherkommen sein weisses Aussehen; alt zeigt sich das hart am See liegende CistercienserinnenKlösterlein Feldbach, alt und unschön die Häuserseiten Gegen den See, alt und verwittert der Kuppelbau des Turmhofes. Und wenn der Fremde unter dem Torbogen des Rathauses hindurch ins Innere des Städtchens gekommen ist, so mag er enttäuscht sein, nach der immerhin malerischen Seeseite ein ganz nüchternes Landstädtchen zu sehen, die lange Hauptgasse krumm, ohne Trottoir, die Kirchgasse mit einem Pflaster, das ein wahrer Schrecken für die Hühneraugen ist; die Häuser sind fast alle nur 2stöckig, trotz ihres Alters ohne Schönheit, selten ist ein Erker geschmückt. Von den Mauern, welche einst das Städtchen umgaben, sind nur noch wenige Reste vorhanden, von den Thürmen nur ein einziger, zerfallender; die Stadtgräben sind fast ganz ausgefüllt und mit herrlichen Obst und Zierbäumen bepflanzt. Das ganze gewaltig überragend, wie der Münster die Stadt Strassburg, steht auf etwas erhöhter Stelle die Kirche, eine der grössten, wo nicht die grösste im Thurgau. In ihrer jetzigen Gestalt ist sie etwas über 120 Jahre alt, ein Denkmal des lebhaften kirchlichen Sinnes jener Tage und der Hoffnung der Väter auf ein starkes Wachstum der Bevölkerung (der äussere Eindruck dieses Baues ist ein wenig beeinträchtiget durch dessen zu grosse Breite im Verhältnis zur Länge und durch den zu kleinen, viereckigen Chor). Das Innere derselben, weil durch keine Säulen geteilt, ist ein etwas kahler, aber immerhin durch schöne Stuccaturarbeit an den Decken, durch Fenster mit Glasmalerei, würdigen Raum. Sie dient der evangelischen und katholischen Konfession gemeinsam. Ein eigentümliches Andenken an die Jahrhunderte andauernden konfessionellen Streitigkeiten und Kämpfe zwischen Reformirten und Katholiken ist der grüne Vorhang, welcher jedes Mal vor den Chorraum gezogen wird und diesen verhüllt, wenn die Reformirten Gottesdienst halten. Er stammt aus der Zeit, wo diese den Greuel der Bilder und Altäre nicht sehen wollten; er darf nicht erneuert, nur geflickt werden, und das wird er so gründlich, dass von dem ursprünglichen Stoffe nur noch Endstreifen vorhanden sind. Wäre der Chor nicht so unschön, so würde wahrscheinlich das ästhetische Gefühl, das konfessionelle besiegend, den Vorhang weg dekretieren. Im Anfang des 4. Jahrzehntes unseres Jahrhunderts wurde der jetzige Kirchturm ganz massiv aufgebaut und derselbe ist, wenn auch sein Helm zu kurz geraten eine Zierde des Städtchens und der Gegend; von seiner Altane aus geniesst man einen wunderhübschen Ausblick auf See und Land. Stattlich präsentirt sich das Schulhaus auf einem dem See abgewonnenen Platze, 3stöckig, mit Raum für 4 Elementar, 1 Sekundar, 2 weibliche Arbeitsschulen und 1 Lokal für Religionsunterricht. Das weitläufige Rathaus weist in einem seiner Säle eine schöne, alte Holzdecke, 2 schöne Glasgemälde, wovon das eine das einstige Steckborn darstellend, welche die Bürgerschaft trotz ziemlich bedeutender Preisofferte nicht weggibt. Der Bau, welcher dem ganzen Steckborn nach der Seeseite sein originelles gepräge gibt, der Turmhof, hart am See gelegen, mit 1 grossen und 4 kleinen Kuppeln überdacht, dem Kreml in Moskau ähnelnd, ist ein Zeuge von der Hinfälligkeit menschlicher Herrlichkeit. Erbaut von den Aebten des nahen Klosters Reichenau, welche über steckborn Hoheitsrechte ausübten, wurde er öfters von diesen bewohnt, wenn sie in Unfrieden mit ihrem Konvent gerieten; jetzt ist er zum Armenhaus herabgesunken. Das nur 510 Minuten vom Städtchen nach Westen abliegende einstige Klösterlein Feldbach, von einem prächtigen Baumgarten und Mauern umgeben, birgt jetzt in seinen Mauern eine Maschinenfabrik; selbst die einstige Klosterkirche ist zu einem Arbeitraum verwendet. Wer sieht, wie sich nach rechts und links, in der Ebene und die Hügel hinauf Weinberg an Weinberg reiht, dem ist klar, was und wie viel die Steckborner zu arbeiten haben. Rebarbeit ist ihre Hauptbeschäftigung, der Wein das Haupterzeugnis. Darum wird auch während der Weinlese jedenTag um die Mittagszeit ½ Stunde mit allen Glocken geläutet, zum Zeichen, dass ihr tägliches Brot durch Gottes Güte von den Reben kommt. Der Umfang an Aeckern und Wiesen ist daneben klein, auf der Höhe gelegen. Es gibt nur wenige Bauern mit grösserem Gewerbe; wenige haben eigenen Pflug und Zug; nur wenige Schäunen sind vorhanden. Das einzige oder die paar Kühlein, welche die meisten Haushaltungen doch halten, sind irgendwo in einem Höfchen hinter den Häusern, im Erdgeschosse dieser untergebracht, das heu auf den Estrichen der Wohnhäuser. Ein halbes Wunder, dass bei dieser Einrichtung seit langer Zeit keine Feuersbrunst mehr ganze Reihen dieser aneinander gebauten Häuser verzehrte. Ws an Handwerkern nötig ist, findet sich vor. Die in frühen Zeiten berühmte Hafnerei ist fast ganz verschwunden, alte Oefen in vielen Häusern geben noch Kunde von ihr. In neuester zeit ist durch die Stickerei Verdienst in die Stadt gekommen, auch die freilich von ihrer Glanzzeit gesunkene mechanische Werkstätte in Feldbachbeschäftigt noch eine Anzahl Männer. Eine sehr verbreitete Hausindustrie für Frauen und Kinder ist die Spitzenklöppelei, in welcher es viele zu grosser Geschicklichkeit bringen. Im Winter klappern fast in allen Stuben die „Düntel“; im Sommer sitzen viele Frauen und Kinder vor den Häusern mit ihren „Würklisten.“ Muss es auch schon eine fleissige „Wirklerin“ sein, wenn sie im Tage Fr. 1.bis 1.50 verdienen soll, so ist die Klöppelei doch ein ganz annehmbarer Verdienst, namentlich im Winter. Die Steckborner sind mit Recht bekannt als sehr arbeitsame Leute. Und zwar arbeitet der Reiche wie der Arme, die rau wie die Magd: dass ihr der Himmel langweilig vorkäme, wenn sie dort keine Waschen zu halten hätte, gestand eine solche Schafferin. Als Stadtleute – was sie doch schliesslich sind – befleissigen sie sich einer auffallenden Einfachheit und Sparsamkeit. Die alten Leute klagen natürlich, es sei die einstige gute Hauslichkeit verschwunden; allein das ist nicht so. Ganz reiche Leute leben so einfach, dass man nur aus dem Steuerregister ihren Reichtum erkennt, und dort nicht den ganzen. In Steckbornerfreuen sich die meisten Kinder des Barfusslaufens wie auf irgend einem Dorfe. Dort war der Selbstkocher schon vor langen Jahren von einer häuslichen Frau erfunden und gebraucht, insofern sie am Morgen das Essen für den ganzen Tag kochte, es sorgfältig ins Bett einpackte und am Mittag und am Abend dort heraus auftischte. Dafür ging es denn auch bei der Austeilung der grossen Hinterlassenschaft dieser Sparer an ganz weitläufige Erben so lustig her mit Essen, Trinken, Gesang, selbst Musik wie kaum an einer Hochzeit. Die Steckborner Jungfrauen stehen wegen ihrer Arbeitsamkeit und Einfachheit in gutem Rufe, werden vielfach entführt. Aber den Männern, welche sie holen, rate ich, dass sie sich gut zusammen nehmen, wenn sie dieselben behalten wollen, denn sie lassen sich nicht allzu viel gefallen, sondern scheiden sich lieber wieder in dem trotzigen Bewusstsein, dass sie sich auch ohne Mann allein durchschlagen können und weil sie wissen, dass man daheim an geschiedene Frauen gewöhnt ist und dieselben nicht misstrauisch ansieht, wie an anderen Orten. In der Tat hat es darunter von den wackersten, brävsten Frauen, so dass nur auf die Männer der Tadel fällt, wenn sie mit solchen nicht gut auskamen. Steckborn ist ein wohlhabendes Städtchen immer noch, wenn gleich in Folge der langen Reihe magerer Weinjahre in geringem Masse als früher. Die Quelle dieses Wohlstandes liegt in den Weinbergen. Viel Spott geht los über den Steckborner Wein, seinetwegen müsse ja der Nachtwächter den Schläfern zurufen, sie sollen sich auf die andre Seite kehren, damit nicht der wen, im Magen auf der gleichen Stelle liegen bleibend, ein Loch hineinfresse; den Magen verzinnen zu lassen, rät man den nach Steckborn Uebersiedelnden; die UnfallChronik meldet, dass ein Eisenbahnzug entgleist sei, weil einige Traubenbeeren auf der Schiene liegen geblieben. Dass keine Kanonade auf dem eidgenössischen Manövrirplatz in Frauenfeld los sei, sondern sie nur in Steckborn die Trauben pressen, werden Aengstliche getröstet u.s.w. Dass dieser Wein rechtschaffen viel Säure enthält, können selbst seine besten Freunde nicht abstreiten. Aber gerade darum wird er von den Weinfabrikanten so gerne gekauft, er verträgt die Wasserzugüsse; er lässt sich in Markgräfler und Champagner verwandeln. Darum, wenn andere Thurgauer Rebleute noch nach Käufern seufzen, sind die Steckborner Trotten schon ausverkauft. Und darum, wer es gut mit Steckborn meint, soll nur wünschen, dass wieder Jahr um Jahr viel saurer Wein ihnen gedeihe. Die Genüsse kleiner Landstädte fehlen nicht, wie Tanz, Gesang, Turnabende, hin und wieder Theateraufführungen von wandernden Truppen. Um was aber viele Steckborn beneiden können, das ist ihr EisVergnügen auf dem häufig zufrierenden Untersee, wo die sonst so fleissigen Leute die Arbeit an den Nagel hängen, wo Jung und Alt, Männlein und Weiblein, sich auf dem Eise tummeln, selbst bis in alle Nacht hinein mit Fackeln und Musik wie Geister auf der Fläche umherschwirren. Ob noch so oft der See Opfer der Unvorsichtigkeit verschlinge, das schreckt nicht ab, und schon Kinder von 5 Jahren schnallen sich den Stahlschuh an, um würdig die Kunst der Alten fortzupflanzen. Als Feststädtchen für thurgauische Gesangund Turnfeste hat das Städtchen einen guten Klang; da spiegelt es sich dann wie ein festlich geschmücktes Bräutchen in seinem klaren See. Auf den Eisenbahnen, Dampfbootenlassen sich reizende Ausflüge machen nach Reichenau, Mainau, Hohentwiel, Stein a. Rh., Konstanz, nach den Schlössern Arenaberg, Salenstein, Eugensberg, Wolfsberg, Kasteln, Haard. Nur zuwenig bekannt ist die wunderhübsche Gegend; sonst würden gewiss Fremde dort ihre Sommeraufenthalte nehmen. Die in den Seebuchten westlich und östlich von Steckborn gemachten Funde beweisen, dass dort diePfahlbauer schon gewohnt. Eine sehr hübsche, wenn auch kleine Sammlung von solchen Funden ist in einem Zimmer des Schulhauses zu sehen. Geschichtliche Kunde über Stekbeuren reicht zurück bis in den Anfang des 8. Jahrhunderts. Es entwickelte sich zu einem Städtewesen mit Mauern, Türmen , Gräben mit Märkten, Zöllen, Gerechtsamen, mit Bürgermeister und Räten. Die sogenannte Hausmannsche Chronik, im Archiv aufbewahrt, gibt hievon handschriftlich Kunde. Eine von dem verstorbenen Herrn Pfarrer Sulzberger in Felben verfasste Geschichte der Kirchgemeinde Steckborn wurde im Jahr 1886 im Drucke herausgegeben von der sogenannten Dienstagsgesellschaft in Steckborn.