Bundesrat Dr. Adolf Deucher* (1831-1912)
Aus einem alten Bürgergeschlecht stammend, das während Jahrhunderten den reichenauischen Ammann in Steckborn stellte, wurde der zweite thurgauische Bundesrat im zürcherischen Wipkingen geboren, wo der Vater eine Arztpraxis eröffnet hatte. Die Familie kehrte im selben Jahr 1831 nach Steckborn, an den Untersee zurück. Der Erstgeborene trat nach der Primär- und der Sekundärschule ans Gymnasium der Benediktiner in Fischingen und jenes von Konstanz über. In Heidelberg begann er ein Studium der Geschichte, wechselte jedoch zur Medizin und beendete die Ausbildung an den Universitäten Heidelberg, Prag und Zürich mit dem Doktorat in Wien. Nachher kehrte der Zwanzigjährige als Assistent des Vaters nach Steckborn zurück. Seine eigene Praxis gedieh von Anfang an glänzend und machte ihn mit allem Volk vertraut. Von 1858 an Mitglied des Grossen Rates, übersiedelte er wegen eines kleinlichen Streites (Schulhausstreit, Standort des neuen Schulhauses) 1863 nach Frauenfeld, wo er als Bezirksarzt und Sanitätsoffizier Vortreffliches leistete. Neben Anderwert und Labhardt nahm er lebhaften Anteil an der Demokratischen Bewegung, nach deren Sieg ihn die Thurgauer 1869 in den Nationalrat abordneten.
Hier kämpfte er für die Revision der Schweizerischen Bundesverfassung, die 1872 noch scheiterte. Seine allzu kämpferische Haltung kostete ihn das Nationalratsmandat, doch sechs Jahre später wurde er Regierungsrat und erneut Nationalrat. Schon nach drei Jahren bestieg er den Präsidentenstuhl, und als 1883 der Bündner Bundesrat Simon Bavier auf den Gesandtenposten nach Rom wechselte, wählte die Bundesversammlung den beliebten Arzt aus dem Thurgau in die oberste Landesbehörde, einen schlichten, aber kraftvollen Mann des Volkes, der auch in Bern seinem Heimatkanton verbunden blieb. Da die Departemente noch jährlich neu verteilt wurden, hatte er das Justiz- und Polizeidepartement zu übernehmen, dann zwei Jahre lang das Post- und Eisenbahndepartement zu führen, und von 1887 an stand er dem Handels-, Industrie- und Landwirtschaftsdepartement vor, mit Ausnahme der Jahre 1886, 1897, 1903 und 1909, in denen der sprachgewandte, umgängliche Doktor als Bundespräsident das Politische Departement leitete. Er war als Linksliberaler ein moderner Politiker, der den Übergang des liberalen Rechtsstaates in den Sozialstaat beförderte, etwa mit dem Ausbau der Fabrikgesetzgebung, der Kranken- und Unfallversicherung, der Berufsbildung. Handels- und Zollverträge mit fremden Staaten belebten den Aussenhandel, internationale Abkommen verboten die Nachtarbeit der Frauen und die Verwendung des giftigen Phosphors bei Zündhölzern. Persönlich blieb er auch im Alter ein liebenswürdiger, unermüdlich tätiger, weitherziger Mensch, dazu ein Redner voller Mutterwitz. Ein Höhepunkt seiner Amtszeit war die glanzvolle Ansprache an der Jahrhundertfeier des Kantons Thurgau 1903 in Frauenfeld, wo er an der Spitze der vollzähligen Landesbehörde zu seinen Landsleuten sprach. Mit Carl Schenk und Giuseppe Motta gehörte Deucher, einer der volkstümlichsten Magistraten, dem Bundesrat am längsten an. Bei seinem Tod 1912 schrieb eine Berner Zeitung über den grossen Eidgenossen, der auch schwerste Schicksalsschläge hatte überstehen müssen, dass sein Ausspruch an der Feier des 25. Amtsjubiläums die ganze bescheidene Wesensart Deuchers kennzeichne: «Wenig konnte ich tun, aber was ich tat, dies tat ich von Herzen.»
* Die älteste Nennung des Namens Deucher stammt aus dem St. Galler Urkundenbuch im Jahre 760. Ursprünglich stammt der Name aus dem althochdeutschen Vornamen Teud-ger, Teut-cher, Teod-ger, was in den verschiedenen Schreibweisen der Urkunden immer "Volksspeer". Das früheste Wappen zeigt ein Hufeisen. Als erster Deucher in der Stadtgeschichte von Steckborn wird Heinrich Deucher, 1449 Abgeordneter der Stadt erwähnt. Der älteste Ast dieser Familie ist nach Zürich ausgewandert und dort erloschen.Der Steckborner Ast der heute noch blühenden Familie Deucher gelangte 1484 durch Erbschaft in den Besitz des Turmhofes, den sie von 1601- 1639 behält. 1639 wird der Turmhof an die Gemeinde abgetreten, mit der Auflage, diesen nie zu verkaufen.
Eine Ehrentafel aus korrodiertem Messing am Rathaus erinnert uns, kaum lesbar und ganz unauffällig, an unseren Bundesrat Dr. Adolf Deucher