1911- 1996
Hans Baumgartner - Motive von Steckborn
Wer den gross gewachsenen, drahtigen Hans Baumgartner je mit weitem Schritt und hellwach blitzendem Auge ausschreiten sah, hätte Schnelligkeit für die erste Tugend des Reportagefotografen halten können. Es verhielt sich gerade gegenteilig: Die entscheidenden Augenblicke spürte er für seine Kamera mit beharrlicher Geduld auf. Er wusste zu warten, bis sich zwei der Schüler auf einer Bank im Freien in Portugal zum Unbekannten mit dem Apparat in ihrem Rücken umwandten und so eine Zwiesprache eröffneten. Die trefflichen Momente hat Hans Baumgartner ebenso geduldig gesucht und liebevoll gestaltet wie glücklich vorgefunden: «Photographien legen nicht nur Zeugnis ab von dem, was ist, sondern ebenso von dem, was ich sehe», wird er im neuen monographischen Bildband zitiert, der zur Ausstellung erschienen ist.
Lehrer mit Kamera
Hans Baumgartner, 1911 in Altnau geboren, arbeitete immer als Lehrer, ab 1937 bis 1962 in Steckborn und später in Frauenfeld; als Fotograf war er ein Autodidakt. Als 17jähriger erhielt er seine erste Kamera geschenkt. Dass der Jugendliche über die Gabe des fotografischen Sehens verfügte, dokumentiert ein frühes Bild mit der Mutter im Gartenfauteuil. Schon bald wurde Baumgartner für ein erstes Auftragsporträt bestellt. Als Sekundarlehrer naturwissenschaftlicher Richtung wusste er seine Kenntnisse der Chemie im Labor zu nutzen: während Jahrzehnten setzte Baumgartner die Bäder selber an.
Am 2. Juni 1934 konnte er seine ersten Fotografien in der «Illustrierten für alle» veröffentlichen: Schüler und Schülerinnen beim Tauziehen, beim Murmelspiel und beim Lösen von Aufgaben. Das Fotografieren in der Schule blieb ein bevorzugtes Motiv. «Beachtet mich nicht. Ich bin Luft für euch», soll Baumgartner seine Schüler ermahnt und damit jene Ungezwungenheit geschaffen haben, die seine so wahrhaftig wirkenden Bilder ermöglichte. Man sieht in nachdenkliche, neugierige und lernende Gesichter, liest Kleider, Frisuren, fehlende Schuhe als Zeichen der Zeit, wird zum Beobachter einer gemeinsamen Suppenmahlzeit und teilt die Freude der Kinder bei einem Ausflug mit der Eisenbahn.
Respekt und Verhaltenheit
In der Schule ist der Fotograf Baumgartner den Menschen am nächsten. Eine gewisse Verhaltenheit und respektvolle Distanz zu den Menschen zeichnet aber all seine Fotografien aus. Sie kommt zum Ausdruck durch die Konzentration aufs ganz Alltägliche, den Verzicht auf effektvolle Dramatik und die Bevorzugung einer klassisch ausgewogenen und dichten Bildgestaltung. Die Studenten im Wohnheim, die Bauern und Fischer, die Müssiggänger, die Reisenden und die Trauernden: Baumgartner sucht nicht Gesichtszüge nach Regungen ab, sondern er schreibt die Menschen durch die Wahl grösserer Ausschnitte in ihre Umgebungen ein. Das macht seine Fotografien zu Dokumenten von Land und Leuten, von Lebens- und Arbeitsumständen ganzer Landstriche, vorab natürlich des Kantons Thurgau, als dessen «Auge» er auch bezeichnet wurde.
Verwurzelung im Lokalen
Die Verbundenheit mit dem Lokalen teilte Baumgartner mit dem Maler Adolf Dietrich aus Berlingen, den er während zwanzig Jahren porträtiert hat. Hans Baumgartner ist aber auch viel gereist:
1930 nach Paris, 1937 durch Mitteleuropa, 1949 nach Südfrankreich und in die Sahara, 1957 nach Kroatien und Dalmatien, 1963 ab Marseille über Indien, Hongkong und die USA und Mexiko rund um die Welt - und wenn immer möglich, mit Verkehrsmitteln, die den Kontakt mit der Bevölkerung ermöglichten: Schiff, Bus, Zug.
Seine Arbeiten konnte Baumgartner ab 1934 in Schweizer Zeitungen und Zeitschriften und insbesondere auch in der «Zürcher Illustrierten» veröffentlichen. Arnold Kübler ebnete ihm ab 1947 auch den Weg zum «du». Wie ein Briefwechsel zeigt, wurde ihm bezüglich der Wahl von Themen grosses Vertrauen geschenkt - und die Ideen scheinen beim Fotografen nur so gesprudelt zu haben.
Einblick nehmen kann man in der Ausstellung im Kunsthaus Zürich auch in die
Notizbücher, in denen Baumgartner akribisch genau die Umstände der Entstehung seiner Fotografien - Blende, Wetterlage, Sujet usw. - festhielt.
Hans Baumgartner hat sein Schwarz- weiss- Archiv der Fotostiftung Schweiz bereits vor Jahren vermacht.
Die Farbbilder wurden in das Staatsarchiv des Kantons Thurgau verbracht,
Die genauen Notizen zu den Fotografien sorgen künftig für festen Boden unter den Füssen - ob Forscher nun historische Auskünfte suchen oder Interessierte in Augenblicken aus vergangener Zeit grossartige ästhetische Erlebnisse finden.
■ VON PETER P. SCHNEIDER Tagesanzeiger 31. Dezember 1996