Kunstseide Steckborn

Rückblick auf die vergangenen 20 Jahre, von Verwaltungsratspräsident E. Schmid- Vellar vom 29. Dez. 1948

Fotos
Ich möchte nun vor Ihrem geistigen Auge — bildlich gesprochen einen Film abrollen, der Ihnen in gedrängter Form zeigen soll, auf welche Weise die Kunstseidenherstellung in Steckborn Fuß fasste und wie sich unsere Gesellschaft bis in die Gegenwart entwickelt hat. Zunächst ein kleines historisches Bild: Dort wo die Landzunge in den See hinausragt und eine jener reizvollen Buchten bildet, sehen Sie das Nonnenkloster Feldbach, von starken Mauern umgeben und an zwei Seiten vom Wasser umspült. Ums Jahr 1253 erbaut, teilt das Kloster im Jahre 1848 das Schicksal der thurgauischen Klöster. Es wird aufgehoben und die fleißigen Nonnen müssen auswandern. Das Kloster Feldbach geht in den Besitz der Bürgergemeinde Steckborn über. Die Klosterräume werden als Wohnungen vermietet, Felder und Gärten verpachtet und die Waldungen fallen dem Staat anheim, in dessen Besitz sie heute noch sind. Vom Jahre 1864 ab wechselt das Kloster verschiedentlich seine Eigentümer und Bewohner und zwar in folgender Reihenfolge: Zunächst betreiben die Brüder Labhart eine Dampfsäge und stellen Gewehrschäfte her. — 1869 geht das Kloster in den Besitz von Herrn Gubler-Labhart über, der in den Räumlichkeiten eine Eisengießerei und Stickmaschinenfabrik einrichtet. Von 1881 bis 1895 wird das Kloster von der Bank in Winterthur an verschiedene Industriebetriebe verpachtet: Steinmann, Gegauf und die Schweizerische Lokomotivfabrik, Winterthur. Jm Jahre 1895 fällt das Kloster einem Brand zum Opfer. Nach dem Brande geht das ganze Areal in den Besitz der Firma Bächtold über,die eine Motorenfabrik errichtet. Diese besteht bis zum Jahre 1918, worauf das Geschäft von Herrn Arthur Rieter übernommen wird. Hergestellt werden Ziegelei-Maschinen und Maschinen für die Schokolade - Industrie.

Wir kommen nun zum Jahre 1924, d. h. zum ersten Kapitel mit der Überschrift „Kunstseide in Steckborn". Sie beginnt damit, daß Herr Borzikowski, der inHerzberg und Nevers Kunstseidenfabriken errichtet hat, sich für die Liegenschaft Feldbach interessiert. Er überzeugt eine Gruppe von Baumwoll-Industriellen, Viskose-Kunstseide nach eigenen Patenten herstellen zu können und gründet mit ihnen die Borvisk AG., in deren Besitz die Liegenschaft übergeht. Es wird mit dem Bau der Fabrik begonnen und am 24. April 192J können die ersten Fäden von 600 und 450 den. gesponnen werden. Zunächst läuft alles nach Wunsch, bis es sich herausstellt, daß die Patente Borzikowskis gar keine neuen Verfahren darstellen, sondern gegen die sogenannten „Müller-Patente" der Vereinigten Glanzstoff- Fabriken in Elberfeld verstoßen. Darauf entsteht heftiger Streit zwischen den Geldgebern und Borzikowski, der damit endet, daß die schweizerischen Gesellschafter den Konkurs der Borvisk AG. erklären müssen um Borzikowski loszuwerden. Aus der Konkursmasse entsteht die Kunstseide-Vertriebsgesell schaft die das Unternehmen weiter führt bis am 1. Januar 1928 die Steckborn Kunstseide AG. in Erscheinung tritt. Es wird beschlossen, die Fabrikanlage auf eine Tagesproduktion von 2500 kg auszubauen, da die bei Ubergabe des Betriebes vor gesehene Produktionskapazität von 1000 kg, bei normalen Verkaufsverhältnissen keine Rendite verspricht. Schon werfen indessen die kommenden Krisenjahre ihre Schatten voraus Preiskämpfe auf dem internationalen Kunstseidenmarkt beginnen sich abzuzeichnen, welche die Aktionäre veranlassen, an einen internationalen Konzern Anschluß zu suchen,um von dessen langjährigen technischen Erfahrungen zu profitieren. Am 9.Juni 1928 kommt ein Vertrag zustande, demzufolge die Aktienmehrheit an eine internationale Kunstseiden-Gruppe übergeht. Ein neuer Verwaltungsrat wird gebildet. Planmäßig nehmen die Vergrößerungsbauten und deren maschinelle Einrichtungen ihren Fortgang. In den Jahren 1927/28 werden er- stellt: das Chemie-Gebäude, der Spinnerei-Neubau I. Etappe, der Zwirnerei-Neubau und der Spulerei-Erweiterungsbau. Wir schreiben nun das Jahr 1929, dadurch gekennzeichnet, daß sich die Lage auf dem internationalen Kunstseidenmarkt — und damit auch des schweizerischen - parallel mit der allgemeinen Krisis im Textilgewerbe ganz erheblich verschlechtert. Haben die in der ersten Hälfte des Jahres 1928 geltenden Preise gerade noch soviel Nutzen gelassen, um Amortisationen in gewissem Umfange vorzunehmen, so hat sich nunmehr — insbesondere gegen Ende des Jahres — die Situation derart verschlimmert, daß wir das Jahr mit einem größeren Verlust abschließen müssen. Außerdem hat sich die ungünstige Lage auch dahin ausgewirkt, daß die Neubauten nur zum Teil in Betrieb genommen werden können. Wir konstatieren ferner ein langsames Anwachsen unseres Lagers und Hand in Hand damit die Zunahme unserer Schuldenlast. Unsere dringendste Aufgabe sehen wir deshalb darin, durch engsten Kontakt mit den führenden Kunstseidengruppen, die an unserem Unternehmen beteiligt sind, ein finanzielles Rationalisierungsprogramm aufzustellen, sowie eine Anpassung der Gestehungskosten an die Verkaufspreise vorzunehmen. Im Jahre 1930 stehen wir mitten in der Krisis. Die weitere Senkung der Verkaufspreise, verbunden mit der allgemein schlechten Wirtschaftslage, trifft unser Unternehmen empfindlich. Die Preise sind auf ein Niveau gesunken, das einem kleinen Werk wie Steckborn die rentable Herstellung von Standardqualitäten unter Beibehaltung seiner Selbständigkeit nicht mehr gestattet. Um aus der zunehmenden Nachfrage nach Mattseide Nutzen zu ziehen, mit deren Herstellung bereits am 20. Juni 1929 begonnen wurde, gehen wir deshalb dazu über, eine Kunstseide mit hoher Festigkeit, die sogenannte Galetten-Seide, herzustellen, für die uns bessere Preise bewilligt werden und die bei unserer Kundschaft, namentlich in der Strumpfbranche, eine vorzügliche Aufnahme findet. Die Produktion dieser Spezialseide bedeutet indessen: Umbau der Spinnmaschinen und somit weitere finanzielle Aufwendungen.

Auch in den folgenden Krisenjahren 1951—1956 haben wir fort während mit Schwierigkeiten zu kämpfen und nur die Hoffnung, daß es mit der Zeit doch noch gelingen werde durch einschneidende Rationalisierungsmaßnahmen den Kostenpreis zu verbessern und so eine erträgliche Ertragsbasis für die weitere Entwicklung zu schaffen, läßt uns den Mut nicht verlieren.Um uns finanziell über Wasserzu halten, sind wir aber gezwungen, bei den Banken große Kredite zu beanspruchen und die Forderung hinzunehmen, daß das Aktienkapital zwecks Sanierung auf Fr. 600 000. – reduziert wird. Dies bedeutet für die Aktionäre einen Verlust von 80% auf ihrem Nominalkapital. Das im Jahre 1931 gegründete deutsche Kunstseide-Verkaufsbüro in Berlin, dem wir als Mitglied mit eigenem Personal angehören, bringt — wenigstens absatzmäßig — einen gewissen Fortschritt und zeitigt nach und nach auch eine gewisse Stabilität der Preise auf dem deutschen Markt. Die Sonntagsarbeit in der Spinnerei ergibt ebenfalls eine Erleichterung. Seit dem 1. Februar 1934 genießt die schweizerische Viscose produktion einen bescheidenen Zollschutz.5 von 30 Centimes pro Kilo, der indessen in keiner Weise die Einfuhr von Kunstseide zurückdämmt. Der Inlandsmarkt ist zum Tummelplatz ausländischer Konkurrenten geworden und wird durch Unterangebote – namentlich aus Italien - fortwährend gestört. Wenn es uns trotzdem gelingt, unsere volle Produktion aufrechtzuerhalten und zu verkaufen, so nur deshalb, weil sich unsere Seide,dank ihrer guten Qualität, einer besonderen Beliebtheit erfreut. Im Betriebe werden die Rationalisierungsmaßnahmen fortgesetzt. Die Einführung der großen Spinnspule ab 24. Februar 1936 bedeutet einen großen Fortschritt. Im gleichen Jahre wird auch das Spinnen von in der Masse gefärbter Seide aufgenommen. Es entsteht die Decora, die punkto Schönheit und Vielseitigkeit der Farbenwirkung den höchsten Ansprüchen gerecht wird. Emondor hochnaßfest, von feinster Garnstärke und hochgedreht, Goldstaub mit Naturseideneffekt, sind weitere Spitzenprodukte. Ein Personalabbau kann ohne Schmälerung der Produktion durchgeführt werden. - Es zeigt sich eine merkliche Geschäftsbelebung auf dem Inlandmarkt und eine lebhafte Nachfrage nach unserem Produkt. Doch ist die Lage auf dem Exportmarkt sehr schwierig und verworren. Gegen Ende des Jahres 1937 erfolgt wiederum ein Rückschlag infolge Marktschwierigkeiten und so geht es „Stägeli uf Stägeli ab" durch das Jahr 1938 bis zum Kriegsausbruch im September 1939. Wir werden in erster Linie dadurch betroffen, daß ein großer Teil unseres Personals zum Grenzschutz einrücken muß. Auf unserm Fabrikareal entsteht ein Bunker und in der Fabrik wird durch Angestellte und Arbeiter ein Wachtdienst organisiert. Zum Glück werden wir von Bombenabwürfen, die ganz in der Nähe großen Schaden verursachen,verschont, doch brausen in den folgenden Kriegsjahren unaufhörlich des Nachts die Flugzeuge über uns hin, um ihre tödliche Last im benachbarten Grenzland abzuwerfen. Die Kriegsjahre 1940 — 1945) bringen uns Schwierigkeiten besonderer Art: den Verlust freier Märkte, Währungsschwankungen und Kohlenmangel. Trotzdem gelingt es uns, der Nöte Herr zu werden und unser Produktionsvolumen nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern noch zu vergrößern. Gleichzeitig können wir uns auch die nötige Deckung an Rohstoffen verschaffen.
Lag unsere Produktion in den ersten Jahren seit der Gründung durchweg bei 1000 kg pro Tag, so stieg sie sukzessive auf 3000 kg. Im Jahre 1941 wird mit dem Bau der Wärmepumpe begonnen, die am 20. September 1942 in Betrieb gesetzt wird. Sie hat - neben der Torfausbeutung und Holzvergasungsanlage — in außerordentlichem Maße dazu beigetragen, das schwierige Wärme-Problem zu lösen. In das Jahr 1943 fällt die II. Bau-Etappe der Spinnerei mit dem großen Kellerraum. Unseren Beitrag an die Ernährung leisten wir durch Anpflanzung von Getreide, Kartoffeln und Zuckerrüben auf einem gepachteten Areal von insgesamt 1200 Aren.

Die Nachfrage nach unseren Gespinsten in diesen Jahren ist — den Verhältnissen entsprechend — sehr stark. Sie übersteigt bei weitem unsere Liefermöglichkeiten. Diese günstige Lage — verbunden mit den von der Preiskontrolle festgesetzten Verkaufspreisen im Inland — erlaubt uns, nach und nach unseren Schuldenberg abzutragen. Als am 8. Mai 1945 endlich auf den Kriegsschauplätzen das Signal „Ende Feuer" ertönt, sehen wir hoffnungsfreudiger in die Zukunft. Am 3. September 1945, nachmittags, ertönt bei uns die Alarm sirene. Es brennt im Bauschopf beim Einlauf des Elevators der Gasgeneratorenanlage. Der Brand dehnt sich rasch auf den Holz und Sägemehlschuppen, die Brikettierungsanlage und den Torf schuppen aus. Dank der tatkräftigen Mitarbeit unserer Betriebsfeuerwehr, sowie der Hilfe der Feuerwehrmannschaften von Steckborn und Umgebung kann aber der Brand ziemlich rasch eingedämmt werden, ohne daß er auf weitere größere Gebäudeteile übergreift. Am 30. Dezember 1945 trifft die Trauerbotschaft vom plötzlich erfolgten Tode des Herrn Direktor Schibler ein, der in rastloser Tätigkeit - mit Umsicht und Energie - unsere Gesellschaft seit der Gründung geleitet und den Grundstein für ihre Existenzmöglichkeit gelegt hat. Wir wollen auch bei dieser Gelegenheit dankbar seiner gedenken. Um den Kontakt mit der Belegschaft enger zu gestalten, wird am 13. März 1946 eine Arbeiter-Kommission ins Leben gerufen. Am 1. Juli 1946 tritt Herr Dr. Ernst Geiger, der lange Zeit als Chemiker in Emmenbrücke tätig war, sein Amt als Fabrikdirektor an. Herr Andre Dewatre als Delegierter des Verwaltungsrates übernimmt die technische Oberleitung, Um den Betrieb den heutigen Anforderungen anzupassen und seine Erfahrungen auch unserem Werke zuteil werden zu lassen. Die elektrische Anlage wird durch Aufstellung eines 45 000 Volt Transformers sowie eines Elektrokessels erweitert. Dank der anhaltenden Nachfrage nach Kunstseidengarnen sind wir voll beschäftigt. — Das Wohnungsproblem kann durch Errichtung von 3 Wohnblocks in der „Zelge" teilweise gelöst werden. Sie bilden eine wertvolle Ergänzung zu den Einfamilienhäusern in der „Zelge", die im Jahre 1942 mit unserer finanziellen Unterstützung gebaut worden sind. Um für den eventuellen Bau von weiteren Wohnhäusern Platz zu schaffen, benützen wir die Gelegenheit, um am See, im sogenannten Wolfshorn, einen Platz von 54 Aren zu erwerben. Zwecks Vereinfachung unseres administrativen Apparates übertragen wir im Frühjahr 1948 den Verkauf unserer Gespinste der Viscose-Gesellschaft in Emmenbrücke. Zum enormen Nachteil für uns hat sich auf dem Strumpfsektor eine grundlegende Umwälzung vollzogen insofern als die Kunstseide in ganz erheblichem Maße durch die vollsynthetische „Nylon-Faser" verdrängt wird. Dieser Vorgang bringt zwangsläufig die Forderung, durch vermehrte Genauigkeit in der Fabrikation eine konkurrenzfähige Webseide zu schaffen und unsern Absatz mehr und mehr auf dieses Gebiet zu verlagern. Dies heißt jedoch auf unsere Sonderstellung — hohe Verkaufspreise für unsere Strumpfseide — zu verzichten und den Ausgleich in einer verbesserten und vergrößerten Produktion zu suchen.

Über die Entwicklung unseres Personalbestandes ist folgendes zu sagen: Während wir in den Jahren 1928 — 1929 noch über einen Personalbestand von 1048 bis 1145 Mitarbeitern verfügten, reduzierte sich derselbe im Zuge besserer maschineller Einrichtungen und durchgeführter Rationalisierungen auf 321 Personen bis zum Jahre 1938. Die sukzessive sich steigernde Produktion gab uns Veranlassung,den Personalbestand nach und nach wieder zu erhöhen, so daß wir im Dezember 1948 eine Belegschaft von total 502 Personen zählen.

Unterdessen ist die Kunstseide Steckborn vom Markt verschwunden, viele Gebäude mussten dem Fortschritt weichen und wie es aussieht, werden auch noch die restlichen Hallen abgebrochen.

Der hohe Kamin, der schweflig- süssliche Geruch und das schwarze Silberbesteck werden immer in unserer Erinnerung bleiben !

Die Sprengung des Hochkamins am 7.2.72: