Kirchenörter

Einleitung

Beim Sichten und Ordnen des alten Kirchgemeinde- Archivs stiessen wir auf den interessanten und wertvollen Band, der über die Kirchenstuhl- Ordnung in der im Jahre 1766 erbauten Bagnato-Kirche Auskunft gibt. Bald entdeckten wir, dass bereits 1718 ein Verzeichnis der Privat-Kirchenörter bestanden haben muss. Es wäre ein ganz besonderer Glücksfall gewesen, wenn dieser ältere Band im Original hätte aufgefunden werden können. Leider muss er als verloren betrachtet werden. Die vorhandene Kirchenstuhl-Ordnung scheint zuerst ein trockenes Instrumentarium zu sein, nur aus Nummern und Namen bestehend, aber sie ist im Grunde eine Fundgrube lokaler historischer Familiengeschichte. Zwar kommen eigen¬tümlich anmutende Ausdrücke vor, die auf den ersten Blick unverständlich scheinen, wie das Wort «Gefletz». Es liess sich aber erkennen, dass es Kirchenschiff bedeutet, im Gegensatz zu Empore. Aus der Zentralbibliothek in Zürich bezogen wir die aufschlussreiche Dissertation von Kurt Spörri aus Bäretswil ZH mit dem Titel: «Die Rechtsverhältnisse an den Kirchenstühlen in der zürcherischen Landeskirche in ihrer historischen Bedeutung»; erschienen 1932. Aus dieser Arbeit lässt sich ersehen, wie wichtig dieses Kirchenstuhl- Problem im damaligen Volksleben genommen wurde. Leider ist über die Kirchenörter im Kanton Thurgau noch sehr wenig bekannt, so dass Vergleichsmaterial spärlich ist. Aus der Dorfgeschichte von Hugelshofen, einer geschlossenen bäuerlichen Siedlung am nördlichen Ottenberg, lässt sich entnehmen, wie auch dort die Kirchenstuhl- Ordnung eine bedeutende Rolle im Dorfleben gespielt hat. Nach den Bestimmungen des 4. Landfriedens (1712) haben im Thurgau allgemein die gleichen Anordnungen gegolten wie im Kanton Zürich. Unser Kanton war ja als sogenannte Gemeine Herrschaft der achtörtigen Eidgenossenschaft in kirchlichen Angelegenheiten ganz nach Zürich orientiert, und noch nach dem Untergang der Alten Eidgenossenschaft bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts kamen kirchlich wichtige Allgemeinbestimmungen aus der Limmatstadt in den Thurgau. Begriff und Wesen der Kirchenörter und ihre geschichtliche Entwicklung Die Mehrzahl von Kirchenort hiess nicht, wie wir heute sagen würden, Kirchenorte, sondern überall Kirchenörter.

Schon im zweiten Jahrhundert n. Chr. kannte man in geschlossenen Zusammenkunftsräumen verschiedene Arten von Kirchenstühlen. In den Urchristengemeinden gab es zwar noch keine Trennung in Geistliche und Laien. Es waren ja auch eher Verbände von Idealisten und Inspirierten, und sie huldigten ausschliesslich dem «Laienchristentum». Bald setzte aber ein zielbewusster Zusammenschluss ein zu einer festgefügten Kirchengesellschaft oder - gemeinde. Der Unterschied Priester- Laien, oder Lehrer- Laien wurde ausgeprägter. Nur die Geistlichen durften in den Urchristengemeinden während des Gottesdienstes sitzen. Beweise hiefür sind erhaltene, steinerne Bischofssitze und überlieferte Schilderungen und Daten. Da die Urchristengemeinden am Anfang gezwungen waren, an geheimen Orten zusammenzukommen, konnten sie weder eine allgemein gültige Kirchenordnung noch eine Kirchenstuhlordnung besitzen, die eine geregelte Abwicklung des Gottesdienstes gewährleistet hätte. Aber schon im 3. und 4. Jahrhundert hören wir von geschlossenen Christenge¬meinden, die regelmässig zum Gottesdienst zusammenkamen. Eine feste, interne Ordnung wurde notwendig. Nördlich der Alpen ist erst seit dem 13. Jahrhundert das Sitzen während des Gottesdienstes bekannt. In der Feudalzeit besassen die Burgherren und Ritter oft Eigenkirchen, deren Stifter sie selber waren. Aus heutiger Sicht stellten diese Eigenkirchen sehr oft eher eine private Kapitalanlage dar, als dass sie einem geistigen Bedürfnis entsprochen hätten. Bereits waren die Gottesdienstordnungen in die Eigen- und Dorfkirchen eingedrungen. Die Besitzer der Eigenkirchen beanspruchten für den Gottesdienst den günstigsten Platz, der sich oft im Chor befand. Chorstühle durften in der vorreforma- torischen Zeit — wenn es überhaupt solche gab — nicht von Laien benutzt werden. Der Herr der Eigenkirche hatte grosses Interesse, dass möglichst viele Kirchenbesucher im Gotteshaus Platz fanden, und das war ohne Bestuhlung weit eher möglich. Die Summe der Kollekte konnte auf diese Art erhöht werden, und der Kirchenbesitzer kam müheloser auf seine Rechnung. Ausgangs der Feudalzeit trat die Spaltung in geistliche und weltliche Macht in Erscheinung. Die christliche Kirche als solche ging als Stiftung und Vermögen an die damalige Einheitskirche über. Als äussere Anerkennung räumte die Kirche dem Grundherrn und Stifter verschiedene Rechte im Gottesdienste ein, die sogenannten Patronatsrechte. Eine kleine Anzahl von Patronatsrechten wurde zu Ehrenrechten. Eines davon ist das Recht auf einen eigenen Kirchenstuhl. Die katholische Kirche des späten Mittelalters hat den Kirchenbesuchern das Sitzrecht grundsätzlich zuerkannt. Aber immer noch wurden die Kirchenstühle nicht zu den absolut notwendigen Bestandteilen der Kirche gerechnet. Heute noch kann man katholische Kirchen und Kapellen antreffen, in denen nur Kniebänke und keine oder nur ungenügende Sitzgelegenheiten vorhanden sind. Die St. Georgenkirche bei Rhäzüns GR ist ein sprechendes Beispiel dafür. Die Einrichtung von Kirchenstuhlordnungen war in beiden Kirchen bekannt, doch hat die evangelische Kirche in der Zeit vom 16. bis 18. Jahrhundert derselben eine weit grössere Bedeutung zu verschaffen vermocht, weil seit der Reformation die Predigt in den Mittelpunkt des Gottesdienstes trat. Nach evangelischem Brauch ist diese sitzend anzuhören. So wurden die Kirchstühle ein notwendiger Bestandteil zur innern Einrichtung der evangelischen Kirche und deren Benützung ein Gewohnheitsrecht. Durch die Umgestaltung des Gottesdienstes musste der Bestand an Kirchenstühlen vermehrt und die Bedeutung für das Kirchengut erfasst werden. Dementsprechend wurden auch die nötigen rechtlichen Grundsätze geprägt. Das Kirchenörter-Problem hat sich mit der Zeit zwischen Kirchgemeinde und Kirchgenossen zu einem öffentlichen Recht herausgebildet. Die Reformation bezweckte in ihren Anfängen nicht die Schaffung einer neuen Konfession. Sie erstrebte unter Zwingli und Luther nur die Ersetzung der bisherigen Formen des Gottesdienstes durch andere. Die starke Betonung der Auslegung der Heiligen Schrift, der Vorrang der Predigt im evangelischen Gottesdienst, war das grosse Anliegen und elementare Ziel der Reformatoren. Luther richtete sich gegen die Verderbnis der Kirche und die Werkgerechtigkeit (Ablasshandel); Zwingli kämpfte mit den Satzungen der Heiligen Schrift gegen die allgemeine Verderbnis, gegen Aberglauben und Sittenzerfall, für die Abschaffung der Reisläuferei, die Beendigung der Leibeigenschaft und für eine geordnete Armenunterstützung. Der Ort, wo das Wort des Evangeliums gesprochen wird, vereinigt eine sichtbare Gemeinschaft der Gläubigen. Das ist die Kirchgemeinde, die Pfarrei, oder nach alter Auffassung die «Kilchhöri». Diese Kirchgemeinde, gebildet aus selbständigen, unter sich gleichwertigen und gleichberechtigten Gliedern der Kirche Christi, wird mit der Zeit zu einem verwaltungsrechtlichen Organismus zusammengefasst. Aus diesem Kirchenbegriff hat sich die Evangelische Landeskirche herausgebildet. Zwingli hat dieser urteilsfähigen Gemeinde die Kirchengewalt gegeben. Sie ist zuständig zur Beurteilung aller kirchlichen Fragen und ist berechtigt, die Gottesdienstordnung selbständig zu bestimmen. Die Urgemeinde mit dem Laienchristentum war für Zwingli der Ausgangspunkt und das Vorbild. Durch politische Momente ist in der Zeit nach Zwingli die Wende zum Staatschristentum vollzogen worden. Die Obrigkeit, die bis jetzt nur oberste Kirchenbehörde war, wird zur kirchlichen Landesobrigkeit, die für das geistige Wohl aller Bürger zu sorgen hat. Es kam zum obrigkeitlichen Erlass des Kirchenzwanges, was ein triftiger Grund zur ausgedehnten Entwicklung des Kirchenstuhlwesens in der Reformierten Landeskirche und ein nicht zu unterschätzender Faktor der Kirchenverwaltung wurde. So bildete sich das Kirchenörter- System zu einem öffentlichen Recht heraus. Der Kirchenzwang ist während Jahrhunderten mit äusserster Strenge und Engherzigkeit gehandhabt worden. Der Zwang zum Kirchenbesuch um- fasste alle Kirchgenossen. Der allgemeine Sitzbrauch brachte es mit sich, dass kleine Kirchen oft zum Bersten voll wurden. Daraus erklärt sich auch, dass im 17. und 18. Jahrhundert vielerorts die Kirchen durch An- oder Umbauten oder durch Errichten von Emporen vergrössert wurden, um den Kirchgemeindegliedern die notwendigen Sitzplätze zu verschaffen. Der Kirchgang wurde zu einer alles umfassenden, bürgerlichen Pflicht, die vom Staate gefordert und geschützt wurde. Er wurde ein verbindliches Gebot, dessen Nichtbeachtung sogar bestraft wurde. Man musste sich beim Pfarrer oder dem Ehegaumer (Ehehüter, der das sittliche Leben im Alltag kontrollierte) oder bei einem Herrn des Stillstandes (Kirchenväter oder Kirchenvorsteher) gebührend entschuldigen, wenn man dem sonntäglichen Gottesdienst nicht beiwohnen konnte. Die Strafen wurden vom Rate festgesetzt. Kirchenstuhlrechte in der Praxis Die ersten beglaubigten Berichte stammen aus einer zürcherischen Landgemeinde aus dem Jahre 1637. Vom Kanton Thurgau sind bis jetzt keine so frühen Daten bekannt, aber die Verhältnisse waren bei uns ganz ähnlich. Der Thurgau ist um jene Zeit Gemeine Herrschaft (aus dem Blickwinkel der Acht Alten Orte). Seit der Reformation steht der Thurgau in Kirchensachen ganz unter zürcherischer Oberherrschaft. Wie im Titel erwähnt, stammt die Steckborner Kirchenstuhlordnung aus dem Jahre 1766, und sie ist anlässlich des Bezuges der neuen Bagnato-Kirche aufgestellt worden. Sie wird als neue Ordnung bezeichnet und ist in der Anordnung derjenigen aus dem Jahre 1718 entnommen. Aus dem gleichen Jahre findet sich ein Dekret der Gesandten von Bern und Zürich, wonach über Streitigkeiten wegen den Kirchenstühlen zwischen den bürgerlichen Kirchgenossen Steckborns der Kleine und der Grosse Rat daselbst zuständig waren. Von Arbon erfahren wir, dass Kirchenstuhlstreitigkeiten von den Kirchenvätern (Kirchenvorstehern) unter Aufsicht des Obervogtes bereinigt wurden. In Steckborn gab es nie sogenannte Familien- oder Bürgerstühle wie in etlichen Kirchen des Kantons Zürich, wo eine ganze Bankreihe den Namen eines einheimischen Bürgergeschlechtes tragen konnte, wie zum Beispiel in Stammheim und in Benken. Bei uns gab es keine Labhart-, Hanhart- oder Füllemann- Bänke. Auch gingen bei uns nur einzelne Kirchenörter erbweise auf einen Nachfolger über. Meistens mussten sie gekauft werden, und zwar auf dem Rathause. Dort wurden sie vom Ratsschreiber protokolliert und ratifiziert. Die Oerter waren verschieden im Preis, je nach Lage. Oerter im Gefletz (Kirchenschiff) kosteten mehr als solche auf der Empore. Für sie wurde ein Kaufschein ausgestellt und eine Gebühr von 8 Kreuzern erhoben.

Das «Platzgeld» kam in die Kasse des Kirchengutes. 28 solcher Kaufscheine konnten im Kirchenörterbuch noch aufgefunden werden. Sie tragen meistens kein Datum, aber doch die eigene Unterschrift des Käufers und später auch des Verkäufers. Für die ursprünglichen, erstmals vergebenen Oerter fanden sich keine Kaufscheine. Dieser Modus wurde erst üblich, als die Kirchenörter ihre Besitzer zu wechseln begannen. Beim Anlegen der neuen Kirchenstuhlordnung wurden alle Plätze in der Kirche, wie das Protokoll nachweist, einfach numeriert. Zwischen den einzelnen Nummern und der genauen Angabe des Besitzers ist genügend Platz freigelassen worden zur Eintragung eines Nachfolgers. Die neue Kirchenstuhlordnung soll jahrzehntelang gelten, und so wurde mit einberechnet, dass die Oerter ihre Besitzer wechseln werden. Das ist in unserm «Instrumentarium» klar ersichtlich, und die Durchsicht eröffnete interessante Familienzusammenhänge. Verkauf, Tausch oder Vererbung kamen erst später vor. Dabei sind die Käufer eines Kirchenortes ins Handgelübde genommen worden. Daraus ist ersichtlich, wie wichtig der Besitz eines Kirchenortes genommen wurde. Das Recht auf seinen erworbenen Kirchenort hat sich im Bewusstsein un¬serer Vorfahren stark eingeprägt und ist zum unumstösslichen Gewohnheitsrecht geworden. Noch vor 100 Jahren, als das Recht auf einen eigenen Kirchenstuhl längst nicht mehr ratifiziert werden konnte, ist im Protokoll der Kirchenvorsteherschaft aus dem Jahre 1843 (unter Pfarrer Rahn) zu lesen, wie bei einem grösseren Andrang der Mesmer einige Frauen auf noch leere Plätze aufmerksam machte, und wie diese sich energisch weigerten, diese Plätze einzunehmen, mit der Bemerkung: Auf keinen Fall, das sind «eigentümliche» Oerter (also Stühle mit Eigentumsrecht). Die evangelische Kirche unterschied auch bei uns verschiedene Arten der Kirchenstühle. Chorstühle, gewöhnlich in der Nähe der Kanzel, waren voneinander getrennte, abgeschlossene Einzelsitze. Im Kirchenstuhlverzeichnis Steckborns sind sie mit «Krebsstühle» oder Capelstühle bezeichnet. Darunter verstand man eben diese abgeschlossenen Sitze, die auch «eingemachte» Orte genannt wurden, wie man sie in diesem Jahrhundert noch in verschiedenen Kirchen unseres Kantons sehen konnte. Sie hatten zum Teil neben den seitlichen Scheidewänden vorn noch ein Türchen, so dass der Kirchenstuhl- Besitzer tatsächlich «eingemacht» war. In der Kreuzlinger Kirchenstuhlverordnung hiessen sie sogar «Trucken». Der starke Andrang zum Gottesdienst — nach der Reformation — wurde zu einer ernsten Sorge der Kirchenvorsteher, mussten sie doch den Kirchenbesuch und den Gottesdienst in geregelter Ordnung halten und die Platzverhältnisse nach bestimmten Gesichtspunkten regeln. Diese Notwendigkeit forderte die rasche Entwicklung des gesamten Kirchenstuhlwesens. Arten der Kirchenstühle und ihre Benennungen Da waren einmal in erster Linie die Amtsstühle. Diese wurden den Amtspersonen zugewiesen und vorbehalten, solange die Amtsinhaber ihre öffentlichen Funktionen rechtsgültig erfüllten. Ihnen gebührte dank ihrer besonderen Stellung im Gemeinschaftsleben auch ein besonderer Sitz in der Kirche. Die enge Verbundenheit und gegenseitige Abhängigkeit von Staat und Kirche bekommt damit ihren sichtbaren Ausdruck. Bei den Amtssitzen unterschied man noch die Offizialstühle für geistliche Amtspersonen wie Pfarrherren und Amtsverweser, deren Stühle Predigerund Pfarrstühle genannt wurden. Dazu gehörte auch die Bank für die Pfarrfamilie. Offizialstühle waren ferner auch solche für Amtspersonen, die der Kirchgemeinde dienten in der Kirchenverwaltung und als Hüter der Kirchenzucht. Ferner gab es Sigristenordnungen, in denen das Recht auf einen besondern Kirchenort niedergelegt war, sowohl für den Mesmer als auch für seine Gehilfen beim Läuten. Es folgen die Ehegaumer- und Stillständer- Stühle. Ehegaumer waren meist Mitglieder der damaligen Kirchenvorsteherschaft (man brauchte diesen Ausdruck damals noch nicht), die das sittliche Leben der Kirchgenossen kontrollierten und wenn nötig Anzeige an das Pfarramt und damit ans Ehegericht machten. Der Stillstand hat seine Bezeichnung von der Art, wie diese Kommission ihre Geschäfte erledigte. Nach dem Gottesdienst standen zwei oder drei Kirchenvorsteher beim Taufstein still (eben Stillständer!) bis der Pfarrer zu ihnen trat und die Wochengeschäfte über Armenfälle mit ihnen in grossen Zügen besprach, worauf man die nächste Sitzung vereinbarte. Zu den Amtssitzen gehörten ferner diejenigen der politischen Behörden. Sie waren bestimmt für die Bürgermeister (2), den Bezirksstatthalter, den Oberrichter und die Ratsherren. In Steckborn gab es um jene Zeit zwölf Ratsherren vom Kleinen Rat und 24 vom Grossen Rat. Der Stadtammann war der oberste Beamte des Gerichtsherrn (fürstbischöfliche Kanzlei mit Obervogt Razenried auf der Reichenau). Der Gerichtsherr, der aber seit der Eroberung des Thurgaus (1460) nur die Niedere Gerichtsbarkeit unter sich hatte, war der Bischof von Konstanz, der natürlich keinen Anspruch auf einen Kirchenort in der paritätischen Kirche zu Steckborn geltend machte. Die Hohe Gerichtsbarkeit besass der Landvogt in Frauenfeld. Als weitere Beamte der Stadt Steckborn kamen zwei Säckelmeister fürs Stadtgut dazu (Kassieramt!), dann die Kirchenpfleger, welche die verschiedenen Fonds verwalteten. Ueberdies gab es einen Ratsschreiber und zwei Gerichte, die jedes Jahr wechselten, mit einem Gerichtsschreiber und einem Stadtweibel. Die Weibeigeschäfte für die Kirche besorgte der Mesmer. Das KirchenörterVerzeichnis enthält eingangs die Ratifizierung oder Bekräftigung der fürstbischöflichen Kanzlei der Reichenau, mit Siegel in einer kunstvollen Papierrosette, und diejenige der Kanzlei des thurgauischen Landvogtes in Frauenfeld mit Insigelstempel und der Unterschrift des Landvogtes. Die wörtliche Uebertragung dieser Bestimmungen, die sich auf Kirchenstuhlstreitigkeiten erstrecken, ist ebenfalls im Kirchenörterbuch festgehalten. Weiter konnten auch die Gemeindeangestellten Amtssitze beanspruchen, so der Schulmeister, der meistens auch Vorsänger war, mit seinen «Singern». Diese wurden vom Rat bestimmt und hatten in der Regel sieben Kirchenorte inne. Auch der Pfänder und die Hebamme gehörten in diese Kategorie. Nach zürcherischer Kirchenstuhl- Ordnung kamen dazu die Honoratiorenstühle für allfällige Stadt- und Dorfmagnaten, für ansässige bevorzugte Bürger, die Land für den Kirchenbau geschenkt oder grössere Stiftungen gemacht hatten. Wer grosszügig Baumaterial für Reparaturen und Kirchen¬erweiterungen spendete und dazu erst noch beträchtliche Frondienste leistete, gehörte auch hieher. Ebenso besassen die Vögte Honoratioren- Oerter. Im Steckborner Kirchenörterverzeichnis ist nichts derartiges ersichtlich! Zum guten Schluss kommen die Allgemeinstühle, die bezahlt werden mussten, um die aufgelaufenen Bauschulden etwas tilgen zu können. (Für Kirchenort wird meist der sächliche Artikel gebraucht, also das Kirchen¬ort, die Kirchenörter. Wir halten uns im folgenden an diese «Grammatik».) Die Oerter wurden also gekauft und konnten auch wieder verkauft werden. Ratsherr Andreas Wüger zum Oberhaus in der Kirchgasse zahlte zum Beispiel für sein Kirchenort 15 fl (Gulden), (1 fl = zirka Fr. 2.30 bis Fr. 2.50). Für dieses Ort ist ein sauberer Kaufbrief erhalten. Die Brüder Hanhart in der Ziegelhütte (Glarisegg) mussten 22 Gulden aufwenden. Kirchenstühle konnten auch in Raten abbezahlt werden. Hiervon wurde in Steckborn kein Gebrauch gemacht, da keine Oerter für 50 bis 100 Gulden verkauft wurden. Es wäre interessant gewesen, wenn im Kirchenörterverzeichnis bei allen Oertern der Preis angeführt worden wäre. Ein solches Verzeichnis ist wohl auf der städtischen Schreibstube aufgeführt worden, ist aber leider nicht mehr vorhanden. Wir wissen auch nicht, ob die Summe eine einmalige Ausgabe war oder ob das Ort verzinst werden musste, oder ob es gar jedes Jahr wieder gekauft werden musste. In einzelnen zürcherischen Gemeinden mussten die Oerter verzinst werden. Im Steckborner Kirchenörterverzeichnis taucht hie und da die Bemerkung «mietweise» auf. Das Kirchenort in Steckborn konnte aber auch vererbt werden. Ob daraus folgt, dass es eine einmalige Ausgabe war, die lebenslänglich Gültigkeit hatte? Später kamen auch Eintragungen vor mit den Bemerkungen «verteilt, verlost, versteigert, verliehen». Etlichemale hiess es auch «erbweise» oder «bei meinem Ableben». Die Sitzordnung mit traditioneller Geschlechtertrennung hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Dieser Brauch ist im katholischen Gottesdienst von jeher gehandhabt worden und wurde ohne weiteres von reformierter Seite übernommen. So sind die Frauenörter gewöhnlich auf der nördlichen, die Mannsörter auf der südlichen Seite, im Gefletz (Kirchenschiff) angeordnet. Das war er. Die Stillständer, oder auch Ratsherren, die während des Gottesdienstes oder der Kinderlehre den sogenannten «Umgang» machten, hatten ihre Oerter in den Capel- oder Krebsstühlen, in der Nähe des Pfarrstuhls. Auch Sängerstühle waren vorgesehen, die nicht identisch sind mit dem Vorsängerstuhl. Die Sänger waren keine Beamte für den Gottesdienst und nicht unbedingt erforderlich. Sie dienten lediglich zur Förderung des reformierten Kirchengesanges. Der Vorsänger hingegen war ein Kirchendiener, von der Kirchenverwaltung gewählt und honoriert. «Sängerstühle» waren in der Regel die vordersten Bankreihen. Auch «Paten- oder Göttistühle» kannte man, die nur während des Taufgottesdienstes beansprucht werden konnten. Man kannte auch einen Brautstuhl. In einzelnen zürcherischen Gemeinden war er bestimmt für auswärtige, in die Gemeinde einziehende Bräute. In Benken wurde von Bräuten ein Einkaufsgeld verlangt, ähnlich der Einkaufsgebühr von Neubürgern. Das kam im Thurgau weniger vor. Den Brautstuhl durften aber auch Töchter aus der Gemeinde während ihres Brautstandes benützen. Im Steckborner Kirchenörter-Verzeichnis ist auch ein Brautstuhl erwähnt. Es folgen noch die Leidstühle, die sich bis in unsere Zeit erhalten haben. Für die Knaben und Mädchen waren Bänke reserviert, die sie als Neu-Konfirmanden besetzen durften, was auch heute noch Brauch ist. Die Hintersassenbänke spielten noch im 18. Jahrhundert eine gewisse Rolle. Es gab auch besondere Bankreihen für Knechte und Handwerksgesellen, für Fremde und Tischmaitli (Dienstmägde). Alten Verordnungen über die Kirchenörter ist zu entnehmen, dass diese allgemeinen Oerter vom Pfarrergemeinsam mit den Kirchenältestenvergeben oder bestimmt wurden, und zwar gratis.Erst die Kirchenerweiterungen, die Bauschulden zur Folge hatten, brachten die Kirchenverwaltungen auf die Idee Kirchenstühle gegen Entgelt an Private abzugeben. Das Kirchengut war im Laufe der Jahre stark reduziert worden durch Armenlasten und Notzeiten. Zudem hat sich in unserem Kleinstädtchen , aber auch in anderen thurgauischen Gemeinden, eine Art "Oberschicht" herausgebildet, wodurch sich die Bevölkerung in Patrizier, Handwerker und Bauern trennte. Die zugeteilten Kirchenörter erwiesen sich als einziges Mittel, die Aufrechterhaltung der Disziplin vor und während des Gottesdienstes zu gewährleisten. Die Kirchenzucht erfuhr dadurch eine sichere Regelung. Die Einführung des allgemeinen Kirchenzwanges verlangte eine straffe Ordnung für die Gottesdienstbesucher. Ein gewisses Prestige spielte dabei auch eine Rolle. Anfangs des 18. Jahrhunderts findet man in der zürcherischen wie in der thurgauischen Landeskirche die ersten Eintragungen über die Abtretung von Kirchenörtern an Private gegen Barentschädigung. Die Sitte hat sich wegen der Neu- und Umbauten der Kirchgebäude zur dauernden «Stärkung des Kirchengutes» gerechtfertigt, während mindestens 150 Jahren. Früher kannte man ausser den Zehnten nur minime Direkt- Steuern in Geld für die Kirche. Darum musste der Verkauf von Kirchenörtern eine Art Kirchensteuer ersetzen. Renovationen, Unterhalt des Kirchen- Innern, Einbau von Emporen oder andere platzvermehrende Aenderungen konnten aus dem Erlös der verkauften Kirchenörter bestritten werden. Die Kirchengutsverwaltung rechnete fest mit diesen Einnahmen. In Steckborn kostete ein Privat- Kirchenort 30 bis 40 Franken. Im Kanton Zürich gab es Gemeinden, die bis zu 80 fl, also ungefähr 200 Franken verlangten. Von 130 Gemeinden im Kanton Zürich gab es 1930 noch deren 18, in denen Kirchenstuhl-Ordnungen bestanden, jedoch ohne Anspruch der Gemeinde auf eine Geldentschädigung. Diese Ordnungen leben in unserem Jahrhundert nur noch gewohnheitsmässig weiter. In Steckborn wurden auch erst anlässlich der vorletzten Kirchenrenovation, Anno 1924, die alten, rohen Kirchenplätze entfernt.

Einzelheiten über die Verwendung der Kirchenörter

Von der Stadtkirche in Winterthur ist aus früherer Zeit, etwa um 1640, bekannt, dass die Stadtverwaltung jedem Bürger und jeder Bürgerin ein Kirchenort in der Stadtkirche zur Verfügung stellte mit dem Hinweis, dieses Recht möchte fleissig benützt werden. Winterthur stand wohl schon damals finanziell besser als unser bescheidenes Städtchen am Untersee, denn die Winterthurer bekamen ihre Oerter gratis. Ueber Einzelheiten orientiert das Kirchenörter- Verzeichnis aus den Jahren 1766/68 aus dem alten Kirchgemeinde- Archiv in Steckborn. In diesem Buch finden sich 368 Haushaltungsvorstände, alphabetisch geordnet, mit genauer Adressangabe, mit Vornamen, oft mit Zu- und Uebernamen, des Berufes, und wenn möglich mit dem Hausnamen. Letzteres war etwas umständlicher als die heutigen Hausnummern, dafür heimeliger und aufschlussreicher. Trotz der heutigen nüchternen Hausnumerierung gibt es noch viele alte und ältere Steckborner, die an den alten Häusernamen hängen. Leider sind lange nicht mehr alle im Gebrauch, und es kann vorkommen, dass die Post Briefe retourniert, die statt der Hausnummer nur den Hausnamen tragen. Viele Häuserbenennungen sind aufgegeben worden oder nach Feuersbrünsten verschwunden. Wer kennt zum Beispiel noch das Schäggenhüsli, das Näpfli, im Hägli, im Etter, im Hirtenstein, in der Unnot, im Weierhaus, im Nägelibaum, im Regenbogen, im Boltzsteg, im Stumpen, zur Ente, zum Storchen, zur Drahtschmitte, zur Treu, zum Röseligarten? Und erst alle die alten Berufe! Da gab es die Büchsenmacher, die Büchsenschifter, Waffen-, Zirkel-, Messer- und Kupferschmiede, Zinngiesser, Nagler, Küfer und Kübler, Weiss- und Rotgerber, Färber, Weber, Strumpfweber, Bildweber, Hut-, Knopf- und Strelmacher, Posamenter, Holzmeier, Ziegler, Oeler, Haschier, Chirurgus und Barbier. Aus den Eintragungen der Kirchenörter-Nummern sind auch die alten Steckborner Bürgergeschlechter ersichtlich mit ihren mehr oder weniger zahlreichen Vertretern und Familien. Es werden genannt: 72 Familienvorstände der Labhart, des zahlenmässig stärksten Geschlechtes in Steckborn; dann folgen die Hanhart mit 47, Füllemann 40, Hausmann 32, Gräflein 26, Guhl 25, Schiegg 22, Düringer 13, Wüger 13, Meyer 11, Deucher 11, Wilhelm 11, Ulmer 8, Schneider 8, Baldin 7, Bauer 5, Merk 5, Götsch 3, Basler 2, Horber 2, Hug 3, Hertenstein 4, Högger, Hallemann, Keller, Köstli, Schwecker und Sibold je 1. (Anmerkung: Eine weitere Quelle für alte Steckborner Geschlechter ist die Hausmann'sche Chronik im Archiv der Bürgergemeinde.) Alle diese Familien sind somit erwiesen. Es kann an Hand dieses Ver¬zeichnisses nachgewiesen werden, dass ihre Vorfahren schon vor rund 200 Jahren in Steckborn wohnten und lebten. Auffallend ist, dass verschiedene Familien zwei und mehr Kirchenörter besassen. Ob diese fleissigere Kirchenbesucher oder einfach besser situiert waren? So besass Jakob Baldin, auf dem Weierhaus, 5 Oerter; Baldin Jonas, in Weyern, auch 5; Füllemann Caspar, Hutmacher, 4; Füllemann, Engelwirt, 4; Füllemann Jakob, im Horn, Küfer, 5; Füllemann Conrad, Rotgerber, 4; Füllemann Jakob, Hutmacher, 4; Füllemann Heinrich, Gerber, im Thurgy, 5; Füllemann, Schifter, 4; Menninger Jakob, zu Wolfskehlen, 4; Meyer Heinrich sei., sein Witib im Dorf, 4; Meyer Jakob, Metzger, 4; Meyer Daniel, Hafner (Steck¬borner Ofenbauer), 4; Meyer Daniel sei., Zeughauptmann, seine Witib, 4; Meyer Daniel, Major, 5; Schiegg J. Melchior, Seckelmeister, 6; Schiegg Jakob, zum Trauben, 4; Schiegg Jakob, genannt Stöckly, 6; Schiegg Daniel, auf dem Stumpen, 4; Sigwart Daniel, im Feldbach, 6; Schneider Melchior, Schiffmann, 5; Schneider Ulrich, Schiffmann, 4; Ulmer Konrad, Schustermeister, im Thurgy, 6; Ulmer Ulrich, Schneider, im Dorf, 4; Wügerly Andreas, Strelmacher, 4; Wügerly Johannes, Ratsherr, Zinngiesser, 3; Wügerly Hans Heinrich, im Kehlhof, 3; Wügerly Hans Jakob, jünger, im Dorf, 3; Wügerly Hans Jakob, älter, im Kehlhof, 3; Wilhelm Hans Jakob, Waffenschmied, 4; Wilhelm Moritz, elter, Nagler, 3; Wilhelm Johannes, Nagler, 4; Wilhelm Hans Balthasar, auf der Badstuben, 3. Als auffälliges Unikum, nämlich als Besitzer von 10 Kirchenörtern, ist Adolf Füllemann, Kassier in der Blume, eingetragen. Diese Notiz stammt aber schon aus dem Jahre 1892 und ist zugleich die letzte Eintragung im Kirchenörterbuch. (Anmerkung: Füllemann Adolf war der Neffe des Füllemann Konrad, welcher der Kirchgemeinde und der Schulgemeinde Anno 1861 je 10 000 Franken schenkte. Siehe Füllemann'sche Stiftung.) An dieser Stelle sei aufmerksam gemacht, dass zur Bezeichnung der Kirchenörter neben dem Namen oft auch ein Familienwappen beigefügt wurde, so eines vorhanden war. Labhart: Hier gibt es zwei Varianten. Das eine Wappen zeigt zwei gekreuzte Sensenblätter, ohne Stiel, das andere zwei Küferhaken, beide mit drei Sternen und einem Vorberg. Hanhart: Die französische Lilie. (Es ist möglich, dass dieses Geschlecht aus dem Elsass stammt.) Guhl: Einen Hahn. Düringer: Einen dürren, aufrecht stehenden Baum mit Sichelmond und drei Sternen. Deucher: Ein Hufeisen. Ulmer: Eine Taube, einen Oelzweig im Schnabel tragend. Hausmann: Einen stehenden Löwen mit einer Sanduhr in den Vorderpfoten. Schiegg: Ein altes Hauszeichen. Füllemann: Ein Füllhorn. Wüger: Einen schräg geteilten Schild, oben einen Leuenkopf, der in einen Nixenschwanz übergeht. Gräflein: Ein altes Hauszeichen. Baldin: Im oberen Drittel des Schildes im blauen Feld drei sechsstrahlige Sterne, in dem unteren Drittel einen Baum mit Blätterkrone und blossen Wurzeln. Menninger: Einen silbernen Schild mit einer dreisprossigen frontalen Leiter. Die oberste Sprosse etwas dicker, auf dieser steht ein Kirchenkreuz. (Die Angaben über einige Steckborner Familienwappen verdanken wir Herrn Bernhard Zimmerli, Heraldiker, Steckborn.) Wie haben die «Täfeli» der Kirchenörter ausgesehen? Leider sind in Steckborn keine erhalten geblieben. Wir können aber Vergleichsmaterial heranziehen. In Hugelshofen, einem geschlossenen, landwirtschaftlichen Dorf am nördlichen Fusse des Ottenberges, sind bei der letzten Kirchenrenovation im Jahre 1923 auch die Kirchenörtersitze und Besitzertäfeli entfernt worden. Ein Interessent konnte diese gratis in seinen Besitz nehmen und sie seiner privaten Sammlung einverleiben. Es waren meistens Täfeli aus Linden- oder Birnbaumholz, 3 x 8 cm gross, geschnitzt, bemalt oder sogar eingelegt, mit den Anfangsbuchstaben des Besitzers und dem Berufszeichen, wenn neben der Landwirtschaft noch ein Beruf ausgeübt wurde. Kirchenstuhl- Bewertungen in Gulden Das Brauchtum für eigene Kirchenörter ist eine der stärksten alten Ueberlieferungen. Die frühesten entscheidenden Verleihungen der Kirchenörter für ganze Haushaltungen oder Geschlechter sind nach aufgefundenen Urkunden zwischen 1667 und 1689 erfolgt. Ob in Steckborn schon im 17. Jahrhundert Kirchenörter verkauft wurden, lässt sich nicht feststellen. Im zürcherischen Elgg bei Winterthur hat man 1657 Oerter verkauft. Dort fand sich die Eintragung: Ein Mannsort im Chor kostet fünf Pfund. Im Fraumünster zu Zürich waren Anno 1746 rund 1200 Kirchenörter verkauft und nur 36 Manns- und 40 Frauenörter vermietet. In einer zürcherischen Landgemeinde wurden nur auf der Empore Kirchenörter verliehen. In Zürich St. Peter konnte man ein Mannsort für 15 Gulden erwerben, ein Frauenort kostete 10 Gulden und ein Nebenort 5 Gulden. In Langnau am Albis wurden für Chorstühle 12 Gulden, für Mannsörter 8 Gulden und für Frauenörter 5 Gulden veranschlagt. In der kleinen thurgauischen Landgemeinde Hugelshofen ergaben die jährlichen Kirchenörter-Vermietungen gegen 100 Gulden. In Steckborn muss durch den Verkauf von 856 eingetragenen Kirchenörtern eine respektable Summe eingegangen sein (genaue Summe ist leider nicht eruierbar), die für den Unterhalt der Kirche verwendet wurde. Dabei darf nicht vergessen werden, dass diese Oerter im Verlauf von 150 Jahren zwei- und dreimal verkauft werden konnten. Es ist auch vorgekommen, dass einzelne bevorzugte Stühle, die sogenannten Chorstühle (in Steckborn Krebsstühle genannt), vorn im Kirchenschiff, im rechten Winkel zu den Bankreihen im Gefletz, an gut situierte Kirchbürger zu einem besonderen Preis verkauft wurden, um der Kasse des Kirchengutes aufzuhelfen. In Steckborn gab es aber ausser den Ratsherrenörtern und Amtssitzen keine bevorzugten Stühle. Auch die einzelnen Familien des Steckborner Patriziates fügten sich der Kirchenstuhlordnung; ein Zeichen guter demokratischer Gesinnung. Es drängt sich immer wieder ein Vergleich dieser Verhältnisse bei uns mit den zürcherischen auf. In Stäfa am Zürichsee wurden noch 1827 für einen Mannskirchenort 10- 50 Gulden, für Frauenörter 10- 60 Gulden gelöst. Der Durchschnitt für zirka 1000 Kirchenörter betrug 25- 30 Gulden. In Steckborn betrug der Durchschnitt nur 10- 20 Gulden, soweit dies den Kaufscheinen entnommen werden kann. Im Steckborner Kirchen- örterbuch sind 1050 Kirchenort-Nummern eingetragen, wovon allerdings nur 180 Weiber- und 228 Mannsörter den ersten Besitzern verblieben. Rund 400 erfuhren im Laufe der Jahre zwei- und dreimal Veränderungen, sei es durch Verkauf, Erbschaft, Versteigerung, Los oder später infolge Verteilung durch den Rat. Das Losen geschieht vor den gnädigen Herren des Kleinen Rates und der Besitz soll erst gelten, wenn er ratifiziert worden ist, so auch in Steckborn. In Flaach ZH, soll keine Person mehr als ein Kirchenort haben, doch sollen die Obrigkeiten und zu den Kirchendiensten gehörenden Oerter hierunter nicht gemeint sein. (Herren Geistliche, Prädikanten, Vorsänger, Lehrgotten - gleich Lehrerinnen, Schülerknaben und Mägdlein, Mesmer und Balbierer.) In der Wädenswiler Kirchenstuhlordnung von 1775 heisst es: Die Stühle im Chor gehören zum Schloss laut Spezialverzeichnis. Die sogenannten Richterstühle (23) werden als Paten-Schulmeister- oder Vorsängerstühle benutzt, laut ausführlichem Verzeichnis. Auf der Emporkirchen hat es 580 numerierte Stühle. Nur diese benannten Kirchenörter sind gemäss Ver¬zeichnis zu kaufen und zu erben. Aber in der unteren Kirche oder im Langhaus oder noch älter im Gefletz, befinden sich noch 246 numerierte Weiberbänke, welche für eigen gekauft werden können. Dazu hat es 20 Abenlass-Bänkli (Abenlass = herunterlassen). In Steckborn sind es die Aufklappstühli, aussen an den Bankreihen. Die Abenlassbänkli gehören der Gemeinde und sind mit Wappen verziert. Ein Ort davon steht der jeweiligen Hebamme oder des Mesmers Frau zur Verfügung. Die übrigen sollen jeweilen an hohen Festtagen von der Gemeinde gegen einen jährlichen Zins zum Unterhalt der Kirche an die meistbietenden Gemeindegenossen verliehen werden. Ebenda befinden sich je 20 lange Manns- und Weiberstühle, als sogenannte Freibänke, die allen Gemeindegenossen frei zustehen sollen. Diese können auch als Leidstühle für die Leidtragenden in Betracht kommen. Acht Bänke sind auch reserviert für die in der Gemeinde anwesenden Fremden, Nichtbürger, Handwerksgesellen und Dienstmägde. Die Stillständer haben auch Freiplätze von Amts wegen; in Wädenswil waren es deren 19. In Steckborn begnügte man sich mit 5 Stillständern. Für ererbte Stühle darf für das Einschreiben und Ausfertigen keine neue Gebühr erhoben werden, Trinkgeldannahme ist hingegen gestattet. Im Steckborner Kirchenschiff und gegen das Chor gab es keine offenen Plätze, hingegen auf der Empore noch 38. Dort hatte es gegen das Pfarrhaus und die Zehndtorggel kurze Stühle mit 6- 8 Oertern. Auf den langen Stühlen gab es 18 Oerter. Im Jahre 1869 kaufte die Gemeinde ein Harmonium, das auf der Empore aufgestellt wurde. Ihm mussten sechs Oerter geopfert werden. Weitere vier Oerter mussten weichen für den Eingang in den Turm, den man im Jahre 1834 von der Ost- auf die Westseite versetzt hatte. Unter den «Stegen» hatte es auch noch Freisitze, zweimal sieben Nummern, aber das waren Nebensitze. Alle Eintragungen der ursprünglichen Kirchenörter-Besitzer in Steckborn stammen aus den Jahren 1766/68. Diese sieben bis acht Generationen, die vor uns in Steckborn gelebt haben, fügten sich sicher ohne Murren dem damals herrschenden Kirchenzwang. Natürlich spielte das bürgerliche Ansehen auch eine Rolle. Ganz selten liest man aber im Pfarrprotokoll, dass der Mesmer oder die Stillständer einen Hausvater, der am Sonntag während des Gottesdienstes auf Verdienst ausging, verzeigten und nachträglich eine Busse eingezogen werden musste. Kirchenstuhl-Streitigkeiten Dieselben wurden in erster Instanz vom Grossen Rat (das heisst einigen Mitgliedern) geschlichtet, in zweiter Instanz vom thurgauischen Landvogt. In Steckborn waren die Handwerker von jeher eine besondere Bürgerklasse. Das zeigt sich auch deutlich darin, dass sie meistenteils ihre Kirchenörter auf der Empore hatten. Im rechten vorderen Gefletz gegen das Pfarrhaus sassen vereinzelt noch einige Handwerker, die aber neben dem Beruf noch Ratsherren waren. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts spielte sich der Steckborner Handwerkerstreit ab, dessen Endergebnis eine eigene Handwerklade, ein eigenes Handwerkbuch und ein eigenes Siegel waren. Aus der zürcherischen Geschichte über die Landkirchengemeinden erfahren wir — und die thurgauischen Verhältnisse waren ähnlich —, dass nach dem 4. Landfrieden (1712) der Stand Zürich alle kirchlichen Ange¬legenheiten im Thurgau regelte, namentlich in paritätischen Gemeinden. Die Kirchenstuhlverordnung musste natürlich lokal geregelt werden. Zürich verlangte strikte die Führung einer detaillierten Kirchenstuhlordnung, die schon im 16. und 17. Jahrhundert bestanden hatte, sehr wahrscheinlich auch in Steckborn. Oft hört man von Kirchenstuhlstreitigkeiten in zürcherischen Landgemeinden. In Steckborn waren die Bürger nicht friedliebender. Die Einzelheiten eines solchen Streites und das Urteil sind auch im Kirchenörterbuch festgehalten. Die Angelegenheit ist bereits bis vor den hochgeachten, wohledlen und gestrengen Herrn Johann Jakob Escher, Bürgermeister in Zürich und derzeitige Ehrengesandte des löblichen Standes Zürich gekommen. Ratifiziert am 22. July 1718. Paritätsbestrebungen in den gemischten Kirchgemeinden In der Zeit vom April 1528 bis November 1529, also in nicht ganz anderthalb Jahren, hatten alle thurgauischen Kirchgemeinden die Reformation angenommen. Bis Ende 1531 ist in unserm Kanton kein katholischer Gottesdienst mehr gehalten worden. Nach dem Kappelerkrieg, der in diesem Jahr stattfand und bei dem der Reformator Zwingli als Feldprediger den Tod fand, setzte die Gegenreformation ein. Verschiedene Gemeinden im Thurgau kehrten zum alten Glauben zurück, wenn auch nur teilweise. Am Untersee ging Steckborn als erste voran. So entstanden die paritätischen Kirchen. Oft gewannen die Katholiken wieder die Oberhand. Anno 1656 kam es zum Villmergerkrieg, einer innerpolitisch kriegerischen Auseinandersetzung, die das Gleichgewicht zwischen den Konfessionen wieder ins Schwanken brachte. Erst nach dem 4. Landfrieden Anno 1712, nach Beendigung des Toggenburgerkrieges, wurde mit Nachdruck an der Parität der thurgauischen Kirchgemeinden gearbeitet, namentlich was die internen kirchlichen Einrichtungen anbelangte. Der Grossteil der thurgauischen Gerichtsherren war katholisch und diese suchten mit den fünf Orten Uri, Schwyz, Unterwaiden, Luzern und Zug den Vorrang ihrer Konfession zu erreichen. Mammern zum Beispiel blieb bis zum Jahre 1619 gut evangelisch. Das war seinem neugläubigen Gerichtsherrn zu verdanken, dem die Erhaltung des Neuglaubens ein grosses Anliegen bedeutete. Die thurgauische protestantische Bevölkerung stellte sich unter den Schutz der Stände Zürich und Bern. Der vierte Landfriede (1712) schmälerte die Rechte der katholischen Gerichtsherren, die mit den katholischen Landvögten im Thurgau sympathisierten, immer mehr. Notgedrungen mussten sie sich einer weitgehenden Neutralität befleissen. Immer mehr bildet sich der Thurgau zur evangelischen Kirchenprovinz der Limmatstadt aus. Die inneren Verhältnisse der Konfessionen wurden nach Paritätsgrundsätzen geregelt und das evangelische Bestreben trat überall stärker in Erscheinung. Natürlich führten die Unterschiede in den Gemeinden oft zu Reibereien, Händel und Gewalttätigkeiten. Doch führten sie mitunter einen edlen Wettstreit herbei, namentlich im Schulwesen der Gemeinden und in kirchlichen Stiftungen, gemäss dem Schlagwort: «Die Schule ist die Tochter der Kirche.» Während rund 200 Jahren waren in den thurgauischen Gemeinden die Pfarrherren die einflussreichsten Persönlichkeiten in Kirche und Schule. Die evangelische Geistlichkeit war vorzugsweise Trägerin der Wissenschaft und Historie. Die Pfarrverzeichnisse sind nicht umsonst oft ergiebige Quellen der lokalen Kulturgeschichte. Im 17. Jahrhundert waren die meisten evangelischen Pfarrstellen im Thurgau mit zürcherischen Geistlichen besetzt. Zürich war noch im 18. Jahrhundert tatsächlich der reformierte Bischof des Thurgaus und die Pfarrkapitel, die bis zu 16 Kirchgemeinden erfassten, bedeuteten einen wesentlichen Faktor im politisch-kirchlichen Leben der Landgrafschaft Thurgau. Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts war der Thurgau diesbezüglich nach Zürich orientiert. Aus einem alten Protokoll der evangelischen Kirchenvorsteherschaft von Steckborn ist ersichtlich, mit welcher Geduld und Ausdauer zum Beispiel das zürcherische Gesangbuch in unserer Gemeinde eingeführt worden ist. Die Bettagsmandate, die von Zürich kamen, enthielten Aufrufe für Geldsammlungen, die geschädigten eidgenössischen Hilfsbedürftigen zugute kommen sollten. (Wasser- und Wetterschäden in den Kantonen Uri und Tessin.) Die Aufrufe zur Unterstützung der vertriebenen Waldenser aus Norditalien kamen von Zürich in unsere evangelischen Gemeinden. Die Ablösung der Kirchenörter Mit der Zeit verloren die Kirchenörter- Rechte ihre Bedeutung. Es ist aber nicht zu vergessen, dass bis zur Einführung der Armensteuer (Gesetz von 1861) der Verkauf von Kirchenörtern neben den Zehnten, Stiftungen und Pfrundzinsen die einzigen Einnahmequellen für das Kirchengut waren. Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewann die Auffassung, alle Kirchen- Sitzplätze sollen jedermann zugänglich sein, die Oberhand. So kam man von der Gepflogenheit, die Kirchenstühle als Handels- und Tauschobjekte zu benützen, immer mehr ab. Die Entartung des Kirchenort- handels illustriert ein Inserat aus jener Zeit: «Zu verkaufen ein Mannskirchenort in der Gemeinde X. An Zahlungsstatt wird auch ein Quant Spätbirnenmost genommen.» Aber das Festhalten an den alten Rechten war in vielen zürcherischen Gemeinden und zum Teil auch bei uns im Thurgau noch recht zähe. Die Ablösung und das Aufgeben dieses Rechtes ging nicht immer reibungslos. Bei den Erbteilungen ergaben sich durch den Besitz mehrerer Kirchenörter Vermögenswerte, auf welche nicht alle Erben ohne weiteres verzichten wollten. In einer zürcherischen Gemeinde sind die Kirchenörter im Fertigungsbrief bei einem Hausverkauf extra aufgeführt. Sie gehörten also zum Haus und stellten einen gewissen Sachwert dar. In Steckborn trat so ein Fall nicht in Erscheinung. Die Ablösung der Kirchenörter, das heisst der Rückkauf derselben durch das Kirchengut oder den Rat ist nirgends festgehalten. Einzig die 10 Eintragungen im Kirchen- örterbuch auf den Namen Adolf Füllemann, Kassier, z. Blume, erbweise 1892 noch erworben, bilden eine Ausnahme. Die Ablösung oder Aufhebung der Kirchenstuhl-Rechte ist bei uns ohne grosse Streitereien vor sich gegangen. Es ist hierüber nirgends etwas vermerkt, weder im Buch der Kirchenstuhlordnung noch in den Protokollen der Kirchenvorsteherschaft. Folgt noch die Kopie von der ersten Seite des Kirchenörterbuches aus den Jahren 1766/68. Quellen: Kirchengeschichte Herrliberg, Abteilung Kirchenörter; weitere von Wädenswil, Kreuzlingen-Egelshofen und Hugelshofen am Ottoberg; Kirchenörter- Verzeichnis von Steckborn, diverse Akten aus dem Kirchgemeinde- Archiv. Neue Kirchenstuhlbeschreibung, wie dieselbe 1768 verteilt worden NB. Leider können nicht alle 1050 Kirchenstuhl-Nummern und der Wechsel der Besitzer angeführt werden. Beschreibung, angefangen bei der Kirchenthür gegen die Zehend-Torggel (heute Haus R. Martini, Kupferschmied). Weiberstuhl der Mauer nach. Eingemachte Ort.

Nr. 1 Herr Statrichter Jacob Gräfly, zum Ochsen lt. Protocoll des 17. jenner 1769 gehört er jetzo dem Herrn Oberst Schiegg 1814 1872 an Nikiaus Stäheli zum Freieck

NB. Freier Platz im Buch zum Eintragen von Besitz-Veränderungen des Kirchenstuhls. Innert 124 Jahren sind 23 verschiedene Schreiber ersichtlich, also war ein Schreiber durchschnittlich 5—6 Jahre in seinem Amt.

Nr. 2 Johannes Merk, Schlosser

Nr. 3 Herr Haubtmann Joh. Conr. Gräfly im Erkel Dieses Ort gehört anjetzo Herrn Leutnambt Christoph Schiegg lt. Protocoll des 8. Aprilis 1791

Nr. 4 Dito Herr Haubtman Gräfly 1768 dieses Ort gehört anjetzo Herr Haubtman Joh. Jac. Labhart auf Sonnenberg lt. Protocoll des 26. Juny 1792 gehört lt. Theylung dem Oberrichter Gräflein 1836 NB. Obige Eintragungen besitzen bereits drei verschiedene Schriften, stammen demnach aus drei verschiedenen Zeitabschnitten.

Nr. 5 Herr alt Bürgermeister Daniel Hanhart im Schloss gehört lt. Kaufschein dermahlen Herrn Seckelmeister Joh. Melchior Schiegg 1795 Durch Erbschaft an Herrn Oberst Schiegg 1854

Nr. 6 Herr Ratsherr Hch. Düringer, Schreiner sei. seine Witwe Gehört anjetzo Herrn Bürgermeister Johannes Labhart zur Hoffnung lt. Protokoll des 22. Juny 1779

Nr. 7 Herr Statrichter Hs. Ulr. Gräfly, Metzger

Nr. 8 Herr Ratsherr Joh. Hch. Hanhart im Oberhof 1809 wurde obiger Ort verkauft an Herrn Präsident Joh. Conr. Gräflein zur Treu NB. Alle Orte, die keine Jahreszahl tragen, sind bei der ersten Verteilung eingetragen worden.

von O. und B. Wegmann- Bürki