Seegfrörni

Die Bodenseegfrörni in Brauchtum und Geschichte Vortrag von F. Bolt, Ermatingen gehalten anläßlich der Versammlung der Heimatvereinigung 26. November 1950 in Salenstein.

Bodensee und Untersee sind in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr in den Mittelpunkt des Verkehrs gerückt. Die Seegegend besitzt alle Jahre im Frühling durch ihren einzigartigen Blütenzauber ein Naturwunder, das Zehntausende jeweilen kosten. Doch wenn der Wein von den Hängen abgeerntet ist, wird es stiller am Seeufer. Der Herbst hält sich zwar lange, aber er bekommt ein müdes, trauriges Gesicht durch die dichten Seenebel. Wochen, ja monatelang lagern diese grauen Ballen schwer und mauerdick über der erstorbenen Landschaft. Trübe, melancholische Tage brechen an, die den lebensfrohen Seehasen mehr ins Gewissen reden als der graueste Aschermittwoch. Fegt ein rauher Ost über die Berge herab und meldet des Winters Ankunft, dann fängt der See zu dampfen an. Damit beginnt der Austausch der von heißen Sommertagen im See aufgespeicherten Wärmemengen mit den kälteren Luftschichten. Der erste Schnee, der auf die Ufer wirbelt, bleibt selten lange. Starke, anhaltende Kälte muß dem Winter zur Herrschaft verhelfen. Dann schließen sich die Buchten und stillen Uferstreifen.

 

Seegfrörni am Untersee

Der Untersee überzieht sich, dank seiner geringen Tiefe, zwischen der Reichenau und Allensbach und später auch zwischen dem deutschen und dem Schweizerufer mit einer Eisdecke, die bald eine tragfähige Brücke bildet. Damit erleben die Anwohner das zweite, wenn auch nicht alljährliche imposante Naturwunder: die Seegfrörni. Ist die Kälte groß und andauernd genug, so kann auch der obere Bodensee zugefrieren, was allerdings nur selten der Fall ist, und dann schon als großes Naturwunder bezeichnet werden darf. Nach den vorhandenen Jahrbüchern war der Bodensee, wie Pankratius Weinheber berichtet, 32 mal zugefroren in den Wintern 875, 895, 1074, 1076, 1108, 1217, 1227, 1277, 1323, 1325, 1378, 1379, 1383, 1409, 1431, 1435, 1460, 1465, 1470, 1497, 1512, 1553, 1560, 1564, 1565, 1571, 1573, 1684, 1695, 1788, 1830 und das letzte Mal im Jahre 1880. Der Untersee allein war viel öfter zugefroren, die letzten Male in den Jahren 1929, 1940, 1941, 1942, 1945 und 1947. Ausführliche Protokolle finden sich erstmals aus dem Jahre 1573. Im Kirchenbuch von Stein am Rhein, wo die Kirchenbücher bis 1559 zurückreichen, ist folgender Eintrag zu lesen: „Es war in disem 1573 jar von anfang, wie es im Novembri des vorgeenden jars hat angefangen, eine gar harte und stete kelte, dergleichen kein man erlabt hat. Die wäret bis in Merzen zu end. Es gefror der bodensee, das man drüber ging von Lindow und von Buchhorn herüber gen fussach und Rorschach auch Romishorn. Von Buchhorn wurdend gütter uff schütten gen Costeng gfürt uff dem dämm. Zu Merspurg gfror der see auch gar zu. So furt man von bregeng groz hölzer gen Lindow uff dem ys. Im Merzen fiengend an die morgen nit mee so grimmig kalt sin. Under tagen ward es zimlich warm. Doch blieb der see beschlossen bis uff den 24. Merzen. Was der ostermontag. Da regnet es in der nacht davor. Umb mittnacht fing an das ys brächen und für den Ryn ab den ostermontag, dann es gieng rin osterlüfftly, und brach also das ys, wie dick es noch war, one groze wind." Und eine Inschrift in der Kirche zu Wasserburg besagt: „Im iar christi 1573 ist der gang bodensee iberfroren, das man uss allen und ieden jnsunders umliegenden Stetten und fleeken zu fuoss daruf gewandlet ist." Schließlich weist auch der Schriftsteller-Pfarrer Hansjakob von Hagnau in seinen „Schneeballen" bei der Beschreibung der Eisprozession auf das Jahr 1573 hin, indem er eine Inschrift in der Kirche von Hagnau wiedergibt, die an der Konsole des hölzernen Brustbildes des Evangelisten Johannes angebracht ist: „Dieses Bildnis ist anno 1573, den 17. Februar, als der Bodensee überfroren war, von Münsterlingen nach Hagnau übertragen und dort auf dem Rathaus gesegnet worden. Nach 100 Jahren wurde sie bei überfrorenem See wieder hieher (gemeint ist Münsterlingen) gebracht. Anno 1796 aber zur Zeit des Franzosenkriegs das zweite Mal zurückgestellt und renoviert von F.X. Faivre."

Die Eisprozession

Damit ist auch bereits der bekannteste und gleichzeitig auch sinnigste Seegfrörnibrauch, die Eisprozession genannt worden, ein Brauch, der im Jahre 1573 eingeführt wurde zwischen den beiden Gemeinden Hagnau am badischen und Münsterlingen am schweizerischen Ufer. Der schöne Brauch der Eisprozession in der Zeit der Seegfrörni hat sich seither erhalten. Das Bild des Evangelisten Johannes wurde an den jeweiligen Seegfrörnen in feierlicher Prozession über den See getragen, und zwar dort abgeholt, wo es sich seit der legten Uebertragung befand. Das geschah zum legten Male im Jahre 1830. In den Aufzeichnungen wurde festgehalten: „Am 5. Februar 1830 wurde das Bild bei überfrorenem See von Münsterlingen in Begleitung der geistlichen und weltlichen Vorgesetzten, sowie der Schuljugend, nach Hagnau übertragen." Wochen vorher herrschte die strengste Kälte. In der Nacht zum 1. und 2. Februar schloß sich die Eisdecke über dem Obersee. Mächtige Eiswälle türmten sich längs des Ufers auf. Durch den Druck des Eises war ein gewaltiger Findling oberhalb von Hagnau vom Grunde des Sees auf das Eis geschoben worden.

 

Von den Pfahlbauten waren viele Pfähle abgedrückt worden und lagen zwischen den Eisblöcken. Am 3. Februar früh morgens liefen einige Bürgersöhne von Hagnau als erste über den See nach dem drei Stunden entfernten Dorf Altnau auf der Schweizerseite. Sie wurden für ihren Mut mit Denkmünze und Anerkennungsschreiben belohnt. Am folgenden Tag begab sich schon eine große Menge auf den See. Der Chronist berichtet, daß aus verschiedenen thurgauischen Dörfern die Schulkinder mit ihren Vorstehern über den See ans deutsche Ufer liefen. Der damalige Ratschreiber Model hielt das Ereignis von 1830 im Bilde fest, das heute im Gasthof zum „Seegarten" in Hagnau hängt.

Die Eisfläche wird belebt von vielen Personen, Schlitten und schwerbeladenen Wagen. Am 5. Februar wurde auf Beschluß des Gemeinderates von Hagnau die Eisprozession unternommen. Mittags 12 Uhr brachen 110 Schulkinder, Pfarrer, Lehrer, der Ortsvogt und viele Eltern auf. Manche dieser Prozessionsteilnehmer mag ein kalter Schauer ergriffen haben, wenn sie durch das glasklare Eis in die unheimliche Tiefe blickten. Unterwegs kehrten sie in Altnau ein und überreichten der dortigen Schuljugend zum Danke für ihren vor zwei Tagen ausgeführten Besuch ein Christusbild mit dem Bemerken, „es möchte dasselbe in der Schule zu Altnau als ein Andenken dieser Begebenheit aufbewahrt werden, bis der See einst wieder überfrieren würde, wo es unsere Nachkommen über dem Bodensee abholen würden." Als die Hagnauer in Münsterlingen ankamen, wurden sie im dortigen Frauenkloster freundlich aufgenommen und mit warmer Suppe, Brot und Wein reichlich bewirtet. Doch die Klosterfrauen waren sehr betrübt, als sie dem alten Brauch ent¬sprechend den Hagnauern das Johannesbild herausgeben sollten. Es wurde ihnen eine Gegengabe versprochen, worauf die Prozession das alte Bild empfing und sich auf den Heimweg über das Eis machte. In einer anderen Darstellung wird erwähnt, daß zwei Burschen an der Spitze des Zuges das Johannesbild trugen. Dann folgten die Schulkinder, Knaben und Mädchen in der alten, schönen Bodenseetracht, die Mädchen mit den prächtigen Goldhauben, die Amtspersonen in schweren Mänteln mit langen Tabakspfeifen, der Kaplan wegen seines hohen Alters auf einem Schlitten von Burschen gezogen. Abends um 6 Uhr, als die Nacht schon hereingebrochen war, kamen die Wallfahrer in Hagnau an. Unter Freudenjubel und Glockengeläute wurden sie zur Kirche geleitet und das Bild dort aufgestellt. Tags darauf brachten zwei Gemeinderäte die versprochene Gegengabe, ein Christusbild, nach dem Frauenkloster Münsterlingen. Seinen Bericht über die Eisprozession schließt Hansjakob mit einem wehmütigen Blick auf jene gute alte Zeit, voll tiefer Poesie und religiösem Gemüt. Er schimpft und räsoniert über seine Zeit, die von alten Sitten und Bräuchen nichts mehr wissen wolle und in Zivilisation und Kultur ersticke. Daß aber bei der nächsten Seegfrörni 1880 das Bild nicht wieder ausgetauscht wurde, liegt nicht in der Vergessenheit dieses schönen Brauches, sondern darin, daß 1880 der Obersee nicht so fest zugefroren war, als daß die Eisprozession gefahrlos hätte unternommen werden können. Pfarrer Hansjakob, der von 1869 bis 1884 Pfarrer in Hagnau war, hat bei der Seegfrörni 1880 das Johannesbild vom Rathaus nach der Kirche verbringen lassen, um es zugänglicher zu machen. Dort hängt es noch heute im Chor neben dem Altar.

„Der Reiter und der Bodensee"

Die Bodenseegfrörni 1830 hat nicht nur in den Chroniken einen nachhaltigen Niederschlag gefunden, sondern sie ist auch in die Dichtung eingegangen. Der bekannte Alemannendichter Gustav Schwab (1792 bis 1850), der 1850 — also vor 100 Jahren starb, ist so eigentlich der Dichter der „Bodenseegfrörni" geworden. Sein bekanntestes Poem ist die Ballade „Der Reiter und der Bodensee", die auch in den deutschen Schulbüchern Eingang gefunden hatte und von der Jugend gerne aufgenommen wurde. Gustav Schwab schrieb:

„Willkommen am Fenster, Mägdelein!

An den See, an den See wie weit mag es sein?"

Die Maid, sie staunet den Reiter an:

„Der See liegt hinter Dir und der Kahn!

Der Fremde schaudert, er atmet schwer:

„Dort hinten die Eb'ne, die ritt ich her!"

Da recket die Magd die Arm' in die Höh':

„Herrgott, so rittest du über den See!"

Der Reiter schaudert, sein Herze stockt,

Er sinkt vom Roß und er ist tot.

Die Frage, was an dieser Geschichte wahr ist, ist von einer ganzen Reihe von Historikern überprüft worden. Daß dem Gedicht ein wirkliches Ereignis zugrunde liegt, ist unbestritten. Dagegen bestehen zwei Möglichkeiten, die Schwab zur Feder greifen ließen, einmal 1573 zu Überlingen und 1684 zu Sernatingen. Schwab ist bekanntlich sehr oft am Bodensee gewesen. Als begeisterter Freund des Sees hat er dessen Geschichte und Natur gekannt, damals vielleicht wie kein zweiter. Man nimmt an, daß Schwab bei einem Aufenthalt in Überlingen Kenntnis von diesen Reitergeschichten erhalten hat, und zwar in der großen Chronikhandschrift des Jakob Reutlinger, die er dort auf der Bibliothek einsah und wo eine Menge von Berichten über den gefrorenen See aufgezeichnet sind.

Die von Reutlinger wiedergegebene Erzählung aus dem Jahre 1573 gilt als der Tatsachenbericht zu Schwabs Gedicht. Reutlinger hat diese Erzählung übrigens aus einer anderen Überlinger Handschrift, die ebenfalls erhalten ist, entnommmen, aus der Chronik von Georg Hahn. Jener erzählt des langen und breiten folgende Geschichte, die hier kurz zusammengefaßt in der Sprache jener Zeit wiedergegeben sei: „ . . . den fünften tag januarit anno 1573 bin ich Georg Han samt einem Burger allhie genannt S ch in bai n auch über see gangen und solchs ist beschehen um 10 uhren, um mittag sehe ich einen von Dingelsdorff am Land herabreiten, in ansehung daß das eis anfing von wegen wärme und lösche knallen, sagt ich zu Schinbain, daß ein reissiger knecht dort hervor rütte. wir lassen ihn warnen er solle mit dem pferd nitt herüberziehen, der geantwurt, er habe den klepper über den Rhin zwaymalen und über den Zellersee ainmal gezogen, all da sey ihme ni nits widerfahren. weil nun vielgedachter reiter anfing ganz nahe zu uns kommen, fingen wir an den gstad zu rucken, da nun viel leut stunden, da es mit dem pferd ein wunder war. nit gar lang wo einer ein ey halb geessen war dieser reuter auch am landt vorm spital Uiberlingen und kehrt sich um und sah über den see. schwitzt heftig, wie auch das pferd, daß es vor nässe tropft auf den boden, und als es sich selbst von den angsten widerumb erholet, sagt er: o wohl ist das eis so heiß! zog also mit dem roß in die „cron" und aß da zum imbiß. dieser ist gewesen meines gnädigen herrn graf Carolus von Hohenzollern landvogt im elsass und hat geheissen Andreas Egglisperger von Enisheim, so vorgemeltem grafen postvogt und diener gewesen, als geessen ging ich wieder an das gstad. da ging ein lauter luft und inmitten des sees brach das eis voneinander." So schrieb es der Chronist Hahn auf und daraus machte Schwab sein dichterisches Gemälde. Von dem nachträglichen Schreckenstod ist keine Spur zu finden, dieser war des Balladendichters Phantasie. Im Gegenteil, der tollkühne Reitersmann ging in die „Krone" in Überlingen und nahm einen kräftigen Imbiß ein auf den Schreck hin, wobei die Überlinger Bürger dem Helden des Tages tüchtig zugetrunken haben sollen. Übrigens war Hahns Gefährte wohl der „lateinische schulmaister" Johann Georg Schi nbain aus Freiburg im Breisgau, der später Überlinger Lateinschuldirektor (1593 bis 1603) gewesen ist. Er hat das Lob des Bodensees in einem langen lateinischen Gedicht besungen. Die „Krone", in der Egglisperger vesperte, ist die Urahne des heutigen Hotel „Krone" in Überlingen, und zwar war es dasselbe alte Gebäude, das jegt nach der Münsterseite zu renoviert ist. Wenn man ins Kronengäßchen geht und durch den Torbogen tritt, steht man verwundert vor der uralten „spitälchen cron", deren mächtiges mittelalterliches Fachwerk unversehrt durch die Jahrhunderte erhalten geblieben ist. Im Jahre 1573, als unser Seereiter hier einkehrte, wirtschaftete Ulricht Müller. Jedenfalls könnte man an der „Krone" eine Erinnerungstafel anbringen mit dem Text: anno 1573, als der see überfroren war, kam der postvogt Andreas Egglisperger mit seinem pferd über das eis und aß beim spitalwürth zur „cron" zum Imbiß." Diesen „Reiter über den Bodensee" hat Gustav Schwab besungen. Der Reiter aber hatte zuerst den zugefrorenen Rhein, dann den Untersee und Gnadensee überquert, denn er sagte bei Dingelsdorf auf der Mainauerseite des Überlingersees: „Ach was, nun bin ich zweimal über den See geritten, er wird mich zum drittenmal auch tragen", wonach er den Überlingersee überschritt und überritt.

Der strenge Bodenseewinter 1829/ 30

Das Jahr 1829 war am Bodensee ein ausgesprochenes Mißjahr gewesen. So hinterläßt der Chronist Josef Waldschütz von Meersburg in seinen privaten Aufzeichnungen, daß fast kein Wein wuchs und was man einheimste, war kaum halbreif und der Wein essig-sauer. Die Stadtkasse Meersburg erzielte damals auf 24 Morgen Reben nur acht Ohm essig-sauren Saft, die anderen grünen Traubenbeeren schenkte man den Rebleuten. Dann kam der strenge Winter, an welchem der Untersee samt dem Obersee überfror. Windschütz schreibt hiezu unter anderm: „Nach einem rauhen, unfreundlichen November, der schon um die Mitte bleibenden Schnee gelegt hatte, stellte sich gleich in den ersten Tagen des Dezembers 1829 eine empfindliche Kälte ein, die an Heftigkeit ständig zunahm. In der Neujahrs¬nacht wollte die Stadtmusik Meersburg einen Umzug halten, hatte jedoch kaum zu musizieren angefangen, als bald ein Instrument nach dem andern verstummte und man den Umzug aufzugeben beschloß. Die Züge der Posaunen waren, sogar während sie in Bewegung gesetzt wurden, eingefroren, an den Tonlöchern der Holzinstrumente hatte sich während des Spielens eine Eiskruste angesetzt. Das neue Jahr 1830 begann mit 25 Grad Kälte, die von nun an ihre Stetigkeit hartnäckig behauptete. Gegen Mitte Januar setzte der See vom Gestade aus dünnes Eis an, das hin und wieder von den Wellen in Bewegung gesetzt, zertrümmert und schichtenweise an das Ufer gespült wurde. Nach kurzer Windstille gewann das Eis einen festen Bestand und nahm an Stärke rasch zu. Immer mehr breitete sich das Eisfeld gegen den Obersee aus und Ende Januar hatte es bereits die Gegend von Hagnau mit dem Schweizerufer verbunden. Am 31. Jänner war der See aufwärts zugefroren und nur die Strecke Meersburg-Staad noch frei. An Lichtmeß wagte eine Gesellschaft Hagnauer den Gang nach Konstanz. Auf dem Rückweg trennte sich einer von den Kameraden und schlug beim Horn die Richtung nach Meersburg ein. Er kam auch hinüber, als gerade noch ein Schiff von Staad einlief. Anderntags hieben die Schiffsleute bereits einen Kanal in die über Nacht zugefrorene Strecke nach Staad aus, hielten ihn aber nur einige Tage offen, denn er gefror immer wieder zu. Nachdem das Eis auf seine Tragfähigkeit von Fischermeister Koch von der Reichenau - ein bekanntes uraltes Reichenauergeschlecht, dessen heutiger Fischermeister Koch offenbar von der gleichen Abstammung ist - erprobt und die passierbare Strecke mit Tannreisig ausgesteckt worden war, strömte eine Menge Leute über das Eis hin und her. Am 5. Februar schätzte man die Zahl der in Meersburg Angekommenen auf 5000. Man verkehrte mit Karren, Schlitten und Pferden und zwar nach allen Richtungen zum jenseitigen Ufer. (Ähnlich oder gleich war es ja hundert Jahre später am Untersee im Jahre 1929, das wohl allen in Erinnerung ist, wo man herüber und hinüber mit allen möglichen Gespannen und auch Autos fuhr.) Bäume und Sträucher prangten damals - 1830 - in Duft, die Eisfläche selbst glich, mit dem Reif belegt, einem unendlichen Schneefeld. Bis gegen Ende Februar blieb der zugefrorne Bodensee der Schauplatz allgemeinen Lustwandeins. Sogar Masken trieben sich auf ihm herum. Es wurden Stände aufgestellt, man lebte und feierte auf dem See. Dann plötzlich ließ die strenge Kälte nach. Offenbar stieg die zuströmende Wassermenge, denn allmählich, aber noch ohne Beeinträchtigung der Mächtigkeit des Eises von einem Fuß Dicke, kam Wasser darüber her. Das Eis lag anfangs März schon bei einem halben Fuß tief unter Wasser. Dem ungeachtet setzte noch ein Schweizer mit einem einspannigen Fuhrwerk darüber hinweg und kam ohne Unfall durch. In wenigen Tagen setzte sich nun die ganze Eisfläche von Überlingen herauf gegen den Obersee in Bewegung. Noch im Mai wollen Schiffer dünne, frisch gebildete Eisflächen im See angetroffen haben. „Bei allem Schönen" - so meint Josef Waldschütz, „es war eine harte Zeit!" Viel Wild ist während der Gfrörni auch über den See gekommen und umgekehrt. Joseph Anton Sauter von Steinach am Schweizerufer erzählte, wie damals auf dem Bodensee gekegelt, getanzt, gezecht und gejubelt wurde und wie sogar wilde Enten eingefroren seien. Getreide aus Schwaben, damals noch die Kornkammer der Ostschweiz, wurde über das Eis eingeführt. Besonders Sonntags, den 7. Februar sammelten sich viele Tausende auf dem Eise, um das Naturwunder in der Nähe zu betrachten. Speisehütten weit draußen reichten den Schaulustigen und den von einem Ufer zum andern Wandernden Labung. Auch einzelne Schlitten mit Rossen fuhren von Rorschach nach Lindau und Wasserburg und zurück. Zahlreiche Züge von Bewohnern der deutschen Ufer besuchten St. Gallen und kehrten, den See zweimal am gleichen Tage überschreitend, in ihre Heimat zurück. Die Gasthäuser von Rorschach vermochten an diesem Sonntag die Menge der Gäste nicht zu fassen. Sogar für das Schmugglergewerbe wurde die breite Eisbrücke mannigfaltig benutzt. Ein Offizier aus Konstanz und ein Thurgauer mußten die Wanderung auf dem Eis mit dem Leben bezahlen, da das Eis an mancher Stelle dünner war. Ein Bürger von St. Gallen, der am 14. Februar über den gefrorenen See nach Vorarlberg wanderte und am folgenden Abend spät mit einem Führer auf dem nämlichen Weg die Rückreise antrat, irrte infolge des Nebels mit diesem die ganze Nacht auf einem Eisstücke herum, das sich vom übrigen Eise gelöst hatte und wurde erst spät am andern Morgen von Schiffsleuten halberfroren gefunden und nach Rorschach gebracht. Schulreise über den „erfrorenen Bodensee" am 6. Februar 1830. In einem Haus in Hatswil bei Amriswil befindet sich noch eine Urkunde, die der Schullehrer des Orts nach der Rückkehr von einer Schulreise über den „erfrorenen Bodensee" den Schülern zum Andenken ausstellte. Die 16 Schüler des Lehrers Ackermann haben mit diesem am 6. Februar 1830 den See von Kesswil nach Hagnau überquert und kamen abends auf dem gleichen Wege zurück. Das Zeugnis, das Lehrer Ackermann damals seinen Schülern ausstellte, und das gleichzeitig die ganze Reise dokumentiert, ist an den damaligen Schüler Johannes Straub gerichtet und hat folgenden Wortlaut: „Daher gebe ich dem Johannes Straub dieses Zeugniß, daß er mit mir und 15 seiner Nebenschüler und sieben erwachsenen Personen aus dem Schulkreise Haatschweil: wie auch mit dem Schullehrer Gottfried Debrunner in Brüschweil nebst zwölf seiner Schulkinder und acht erwachsenen Personen seines Schulkreises den sechsten Hornung 1830 des Morgens um ein viertel und neun Uhr mit allen in vollem Jubel das Schulhaus verlassen und die vorgenommene Reise über den erfrorenen Bodensee nun angetretten; wohl am demselben angelangt, tretten wir unter Gottes Beystand des Vormittags um ein viertel nach zehn Uhr auf die große Eis Blatte, womit die Tieffe des ganzen Boden- Sees bedeckt ist, zu Keßwil an, darnachen die Reise nach Hagnau, beynahe dort angelangt - singend auf dem Eis die 5 ersten Stück des 13ten Liedes um damit dem Allvater Lob, Ehre, Preis und Dank darzubieten. Wohl angelangt betretten wir alle des Mittags um ein viertel nach 12 das Schwabenland bey Hagnau und begeben uns alle daselbst ins Wirtshaus hinein zum Adler genannt. Nachdem wir gegessen und getrunken, haben wir zum Lob, Preis und Dank dem Allerhöchsten 2 erste Stück des 4 ten Liedes gesungen. Während unsers Aufenthalts alldort tritt in unsere Mitte Schullehrer Rutishauser von Räuchlisberg samt 12 seiner Schulkinder. Freudig einander die Hände dargeboten - entschließen wir uns - daß wir die Reise zur Rückkehr miteinander machen wollen und tretten dieselbe mit unsern vierzig Schulkindern des Abends um vier Uhr an und vollenden dieselbe auf dem Eis des Boden-Sees des Abends um 6 Uhr bey Keßwil und tretten mit unsern müden Gliedern das Schweizerland mit Lust und Freude wieder an. Daß der Johannes Straub diese Erfahrung selbst mitgemacht habe, in einem Alter von 15 Jahren, 8 Monaten und 17 Tagen, wird ihm hiemit zum Andenken bezeugt von Schullehrer Ackermann." Pupikofer und Schwabs „Spuk auf dem Bodensee" Während Gustav Schwabs Ballade „Der Reiter und der Bodensee" auf einem Tatsachenbericht beruht, wurde Schwabs Romanze „Spuk auf dem Bodensee" auf einer regelrechten Täuschung Schwabs aufgebaut. Auch hier galt das Gfrörnijahr 1830. Als sich alles auf dem Eise tummelte, gelüstete es auch den damals sechzigjährigen bekannten Germanisten Joseph Freiherr von Laßberg (1770 - 1855), der als „Meister Sepp" im Schlosse Eppishausen bei Bischofszell seinen Sit} hatte, die Eisfläche zu überqueren. In Eppishausen hatte Laßberg, der Schwager der bekannten Dichterin Annette von Droste-Hüllshoff, einen auserlesenen Kreis von wissenschaftlichen Männern um sich gesammelt, so unter andern Johann Adolf Pupikofer, den bekannten Geschichtsschreiber und späteren Staatsarchivar des Kantons Thurgau (1797 bis 1882) und den Bischofszeller Oberamtmann Dr. Jakob Christoph Scherb (1771 bis 1848). Mit diesen beiden Schweizerfreunden und mit Frau Pupikofer unternahm Laßberg dann am schönen ersten Februarsonntag 1830 eine Fußpartie von Uttwil bei Romanshorn aus über den gefrorenen Bodensee nach Immenstaad. Der mehrstündige Spaziergang auf dem Eise war aufs Beste geglückt, aber der Rückmarsch der etwa 9 Kilometer langen Strecke, besonders bei der anbrechenden Dämmerung, erschien zu beschwerlich und gefährlich. Laßberg bestellte daher für den Heimweg einen Schlitten, der aber nicht mit Pferden, sondern mit vier kräftigen Immenstaader Jungmännern bespannt wurde.

Bald nachher berichtete Laßberg Gustav Schwab, er sei mit einem mit „vier Rappen" bespannten Schlitten über den Eisspiegel des Bodensees gefahren. Der Dichter, der dem Freunde und Gönner eine Freude und Ehrung bereiten wollte, malte sich das kühne Wagnis mit dichterischer Kraft aus, und das phantastische Bild von dem in abenteuerlicher Fahrt im Mondschein dahinsausenden, von vier dampfenden Rappen gezogenen Schlittens ließ ihn nicht mehr los, bis er es in Verse gebannt hatte. Eine schwungvolle Romanze, ein würdiges Seitenstück zu der rasch berühmt gewordenen Ballade „Der Reiter und der Bodensee", wurde zu Papier gebracht und erhielt den Titel „Spuk auf dem Bodensee". Mit Pathos hub es an: „Einst sang ich von dem Reiter, der über Eis und Schnee Hinflog in vollem Trabe wohl durch den Bodensee. Nun höret neue Wunder: der See ist wieder zu, Auf uferloser Fläche wohnt stumme Grabesruh' . . ." Aus dem wohlgezeichneten, anschaulichen poetischen Gemälde seien nur noch einige wenige bezeichnende Stellen herausgeschält: „Was jagt in schnellem Sturme die Nebelwolken auf? Was auf des Eises Estrich ertönt wie Rosses Lauf?" Es trabt, es rollt, es wiehert — ein Schlitten kommt heran, Vier schwarze Rosse rennen mit ihm auf glatter Bahn. Was auch mein Lied berichtet, geschah in diesem Jahr, Am ersten hellen Sonntag im strengen Februar. Die vier geschwinden Rappen sind keine Höllenbrut, Zu Immenstaad im Stalle, dort stehn sie ausgeruht. Und die darüber fuhren im Mondschein kalt und hell, Sucht in der Schweiz die Kühnen, fragt an zu Bischofszell, Klopft an zu Eppishausen: wer kennt den Meister nicht ? Der hat die Fahrt bestellet, der sandte mir Bericht. Sie leben alle fröhlich, sie sind ein christlich Blut, Voran Herr Sepp, der gern den Wandrern gütlich tut." Schwab war auf seine neueste Schöpfung außerordentlich stolz und ließ das Gedicht auch bald Uhland zugehen. Und dieser schrieb unterm 19.März 1830 an Laßberg: „ . . . Ihre glückliche Überschreitung des frostgebändigten Bodensees hat Schwab im Lied gefeiert." Laßberg lachte sich natürlich ins Fäustchen und berichtete zurück : „Ja, es ist wahr, ich bin dem alten Potamus über seinen Panzer gelaufen, aber beim Heimfahren war der Schlitten mit vier Schwaben bespannt ..." Auch Pupikofer erzählt über den „Spuk" in seinen „Lebenserinnerungen" und schreibt: „Da es geboten erscheint, so seltene Ereignisse zu benutzen, so wanderten Herr von Laßberg, Herr Oberamtmann Scherb, meine Frau und ich von Uttwil zu Fuß über den Bodensee nach Immenstaad. Dort ließ der Freiherr für die Rückkehr einen Schlitten mit 4 Bauern bespannen, und so kamen wir glücklich wieder an das schweizerische Ufer. Von dem Freiherrn bekam der Dichter Gustav Schwab Nachricht, daß er mit 4 Rappen über die Eisfläche des Bodans zurück nach Uttwil gefahren sei. Schwab . . setzte sich hin und dichtete die Romanze „Der Spuk auf dem Bodensee" in der Meinung, die 4 Rappen, von denen man spaßte, seien wirkliche Pferde gewesen, zum Preise der heldenmütigen Wanderer." Als Gustav Schwab den tatsächlichen Sachverhalt erfuhr und sah, daß er getäuscht worden war, war er sehr verärgert und schied das Gedicht von der zur Herausgabe zusammengestellten Sammlung aus. Immerhin konnte er dem alten Meister Sepp nicht lange grollen wegen seines Scherzes. Diese Romanze, die zuerst im „Morgenblatt für gebildete Stände" 1830 erschien, bietet zugleich ein treffliches Stimmungs- und Landschaftsbild vom winterlichen See. Mit diesen beiden Gedichten Schwabs ist die „Bodenseegfrörni" in die deutsche poetische Literatur eingegangen, die der Seegfrörni auch im allgemeinen ein anderes, freundlicheres Gesicht verschafft.

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Der Gedenkstein in Eis

Die folgende Anekdote stammt ebenfalls von der Seegfrörni 1830. Als damals der Bodensee zufror, behaupteten die Allgäuer, daß diese Jahreszahl der späteren Zeit nicht erhalten geblieben wäre, wenn am Bodensee nur Schwaben — gemeint waren die Friedrichshafener — wohnen würden. Als das Ereignis nämlich in jenem Jahre eintrat, waren sie sich in Friedrichshafen darüber klar, daß dieses bedeutende Datum für ewige Zeiten festgehalten werden müsse. Sie berieten lange mit ihrem Bürgermeister und nahmen schließlich dessen Vorschlag an, gingen mit Hämmern und Stemmeisen hinaus auf den See und meißelten die Jahreszahl in Hausgröße ins Eis! Sie sollen dann sehr erstaunt gewesen sein, als im März, welcher Föhn brachte, die Zahl nicht mehr zu lesen war!

Die letzte große Bodenseegfrörni 1880

50 Jahre nach den vorgezeichneten Ereignissen, fast in denselben Tagen, schloß sich der Bodensee wieder. Der Herbst des Jahres 1879 war so mild und andauernd daß nach den Worten des Chronisten „am 2. November im Badgarten zu Ueberlingen und in den sonnigen Anlagen Perlmutterfalter und Tagpfauenaugen die blühenden Herbstblumen fröhlich umgaukelten." Am 3. November fiel überraschend schnell Schnee und es folgte eine 33tägige Kälteperiode. Mitte Dezember zeigte das Thermometer 23 Grad Celsius. „Doch während Weiher und Flüße erstarrten, schien die Wassermasse des Bodensees ihren Wärmevorrat noch lange nicht verbraucht zu haben und nur das unaufhörliche Seerauchen gab Zeugnis von der starken Wärmeausstrahlung des Bodensees." Einige Stellen des Obersees überzogen sich mit Eis, zwischen Friedrichshafen und Langenargen und zwischen Lindau und Bregenz dehnte sich die Eisbahn. Die Dampfschiffahrt hatte große Schwierigkeiten zu überwinden. „Im Konstanzer Hafen mußte jeden Tag ein Dampfer umherfahren, die Eisdecke zu zerstören, während ein Schleppschiff die losgelösten Eisstücke aus dem Hafen in die Strömung zu bugsieren hatte. Mit zerfetzten Radschaufeln kehrten die Dampfer von ihren mehr und mehr abenteuerlich sich gestaltenden Fahrten zurück." Am 4. Februar mußte der Schiffsverkehr ganz eingestellt werden. Fußgänger gingen über den Ueberlingersee, auch von Meersburg und Unteruhldingen wanderten viele nach der Mainau und nach Konstanz, ebenso von Bregenz nach Lindau. In seiner ganzen Breite aber den Obersee zu überschreiten, galt als ein großes Wagnis. Am Samstag, den 7. Februar versuchten trotzdem neun Hagnauer die Ueberschreitung des Obersees. Nach einem Bericht des Teilnehmers Stephan Dimmeier aus Hagnau vollzog sich die Ueberquerung folgendermaßen: Gegen 1/2 11 Uhr vormittags ward „trotzt der Tränen von Frau und Kindern" aufgebrochen; der die Spitze Führende hatte eine leichte Hopfenstange an einem drei Meter langen Seil, dahinter kam ein Verbindungsmann, die anderen sieben folgten im Abstand von zehn bis fünfzehn Schritten, ausgerüstet mit einem fünfzig Meter langen Seil, Kompaß und einer langen Leiter, jeder einzelne trug ferner einen „Spieß", d. h. eine Stange mit eisernem Haken. Anfänglich folgte eine große Menschenmenge den Wagemutigen. Als sie aber über die „Halde" kamen, dort wo der Seekessel steil abfällt, und das Eis sahen, unter welchem die reinste Nacht herrschte, verloren sich die Begleiter rasch. Die neun spießten hurtig vorwärts, vom dichtesten Nebel umhüllt. Das Eis war so glatt wie geschliffenes Glas und ganz rabenschwarz. Ueber 200 Meter tief lag darunter der See. Von Zeit zu Zeit wurde Halt gemacht, der Kompaß in der Richtung nach dem auf Schweizer Seite gelegenen Altnau angeschlagen und der Führer abgelöst. Als sie etwa ein Drittel der Seebreite hinter sich hatten, kam eine Stelle, an der das Eis nur einen Zoll stark war. Weiter nach vorn zeigte sich das Eis wieder stärker, denn es hatte „Duft", und wo Duft (also Reifen) war, trug die Eisdecke. Der Anführer hatte kaum drei Stöße mit seinem Spieß gemacht, als er auch schon durchbrach und ins Wasser bis an die Ohren versank. Dank der Stange konnte ihn der Verbindungsmann festhalten und bergen. Was die Gefährten ihm an trockenen Kleidern abtreten konnten, zog er auf dem Eise an. Sie gingen nun einige hundert Schritte zurück, bogen in derselben Sicherung nach rechts fort und gelangten an ein vier bis fünf Zoll starkes Eisfeld, das aussah wie „getupfter Marmor" und feingeschliffen war, manchmal Uebergänge von gestauten Eisplatten zeigend. Jetzt bestimmten sie wieder die Richtung und fuhren eine halbe Stunde schleifend, oft so schnell, daß ein Pferd hätte traben müssen, um mitzukommen. Schon hörten sie vom Schweizerufer die Bahn fahren und Leute sprechen. Voller Freude stießen sie weiter vor und aus dem Nebel tauchte plötzlich ein Mann auf. Als sie auf ihn zuhielten, kamen sie jäh an ein Hindernis. Ein 20 Meter breiter Kanal im Eis, vielleicht von der Strömung des Rheines herrührend, an einigen Stellen mit dünner Eisschicht überzogen, störte den Weitermarsch. Sie suchten dem Kanal entlanggehend in Richtung Romanshorn eine Eisbrücke, mußten aber an die Ausgangsstelle zurück, und wagten hier den Uebergang. Aber schon brach der Vorderste mit der Leiter durch. Die sich im Wasser aufrichtende Leiter wurde mit dem nassen Führer von den übrigen zurückgezogen und auf sicheres Eis gebracht. Eine Stunde gingen die Wackeren den Kanal entlang, fanden aber kein Ende. Nochmals wagte sich einer auf der Leiter hinüber, aber er nahm ebenfalls ein kaltes Bad. Vom nahen Schweizerufer waren bereits eine Menge Neugieriger an den Rand des Kanals gekommen. Diese 16 brachten schließlich, als alle Uebergangsversuche fehlschlugen, eine Gondel auf dem Eis heran und brachten die Tapferen nach Altnau. Dort wurden sie gastlich aufgenommen und aufs beste bewirtet. Der ganze Uebergang hatte 6 Stunden gedauert. Am nächsten Tag kehrten sie, begleitet von 7 Altnauern, mit denselben Sicherungen zurück. Diesmal war die Ueberschreitung leichter, da während der Nacht manche offene Stelle sich geschlossen hatte. Auch hier war der Empfang herzlich. Mit Musik und Böllerschüssen wurden sie begrüßt und allgemein gefeiert. Jenen Findling aber, den der See vor 50 Jahren ans Land geschleudert hatte, wälzten die von der Mündung des Dorfbaches ins Mitteldorf und selten ihn zum Gedenken an die Seegfrörni 1830 und 1880 mit ihrem Namen und folgender Inschrift, die Münsterpfarrer Brugier von Konstanz verfaßt hatte, ins Dorf:

Als anno 30 brach das Eis,

Entfloh ich meinem Wassergrab,

Ruht' aus am Dorfbach 50 Jahr.

Wer jetzt den Ehrenplatz mir gab?

Lies hier die Neun, die Unverzagten,

Die heuer über den See sich wagten.

Auch andernorts herrschte zu dieser Zeit am See buntes Leben und Treiben. Fliegende Wirtschaften, Buden und Schützenscheiben wurden auf dem Eis erstellt, Tannenbäume und Fahnen aufgesteckt, fröhliche Feste mit Musik und Tanz, Mummenschanz und Fastnachtstreiben gefeiert. Die Ueberlinger zogen an Fastnacht (8. bis 10. Februar) maskiert auf den See und nach Dingelsdorf. Der Meersburger Spitalküfer stellte auf dem Eis ein Faß zusammen. Die Küfer der Inselbrauerei Lindau taten dasselbe. Sogar eine Zeitungsdruckerei trat auf dem Eisspiegel in Tätigkeit und lieferte „Das Neueste der Literatur." Von auswärts, von Stuttgart und Ulm, Frankfurt und München kamen Sportfreunde und Neugierige, das Naturschauspiel zu sehen. Doch die Herrlichkeit war bald zu Ende. Der warme Hauch des Südens kam über die Alpen herab, zernagte und zertrümmerte das Eisfenster des Sees. Verschiedene Opfer hatte er gefordert. Etwa 10 Personen sind eingebrochen und ertrunken. Ende Februar wurde der Dampfverkehr wieder vollständig aufgenommen. An Reben und Bäumen hatte die Kälte ihre Wirkung getan. Das Jahr 1880 und die ihm folgenden waren keine guten Weinjahre. So begeistert die Seehasen die Eiszeit von 1830 und 1880 gefeiert, sie freuten sich nicht minder, als der Frühling einzog und das erste zarte Grün um Hang und Halde wob.

Der Eiskanal durch den Untersee

Vom Untersee, der schon sehr oft mit einer Eisdecke überzogen war, will der Volksmund wissen, daß er besonders in Kriegszeiten gerne zufriert. In den Kriegsjahren 1940, 1941 1942 und 1945 traf dies tatsächlich zu, und wenn man in der Geschichte weiter zurückblättert, findet man auch in anderen Kriegszeiten Unterseegfrörnen. Von besonderer militärischer Wichtigkeit war die Seegfrörni in der Zeit der deutschen Freiheitskriege (1813 - 15), als die verbündeten Heere tief in Frankreich standen und gegen den großen Korsen kämpften. Damals entschied nicht allein das Glück der Waffen. Wichtiger als Munition war oft der Nachschub von Lebensmitteln für die tief in Frankreich kämpfende Blücherarmee. Mit dem korsischen Eroberer verbündete sich der Wettergott und zog eine dicke Eisdecke auch über den Untersee, dessen Gewässer damals noch den einzigen und idealsten Beförderungsweg für größere Lebensmitteltransporte aus dem württembergischen und bayerischen Hinterland den Rhein hinab bis Schaffhausen bildeten. Wollte Blücher den Korsen niederzwingen, so brauchte er ausreichenden Lebensmittelnachschub. Ihn zu sichern, erschien als die Hauptaufgabe des Hinterlandes. Nur erschwerte das Zufrieren des Untersees diesen Nachschub. Im Februar 1814 fror nach Aufzeichnungen des Wangener Ortsvogtes Stephan Dietrich der Untersee zu, und am 3. März kam vom Kreisdirektorium Konstanz folgender Befehl: „Da der Untersee von Ermatingen bis Stiegen sehr fest zugefroren ist und so die Zufuhr zu Wasser für die verbündete deutsche Armee mit Brot, Mehl, Heu, Hafer, Branntwein und so weiter hindert, muß die gesamte arbeitsfähige Dorfmannschaft am Morgen antreten, um mitten durch den See und das dicke Eis einen Kanal freizumachen, vierundzwanzig Schuh breit, von Ermatingen abwärts bis zum Rheinausfluß." Alle Dörfer am Ufer, Schweizer wie Schwaben, hatten den gleichen Befehl erhalten. Und so rückten sie denn am 4. März an in einer Stärke von über 300 Mann. Mit Aexten, Beilen, Reißhaken und Waldsägen brachen sie innert fünf Tagen das Eis auf. Kaum war der Kanal fertig, kamen schon am 9. März acht mit Mehl, Hafer usw. schwer beladene Schiffe denen am andern Tage zwölf weitere folgten. Und die übrigen Schiffe, die sich von Stein bis Schaffhausen im Besitze der Ufergemeinden befanden, mußten alle schleunigst durch den Kanal in der umgekehrten Richtung in den Obersee fahren, um in Lindau beladen zu werden. Täglich sah man so eine große Anzahl größerer Schleppschiffe und kleinerer Nachen hin- und herfahren. Sie wurden von den Schiffern auf dem Eis an langen Seilen durch den Kanal gezogen. Während der Nächte mußten ständig kleinere Schiffe auf- und abfahren, um ein Zufrieren des Kanals zu verhindern. Am 19. März änderte das Wetter. Es wurde wärmer und die eigenartige Kanalschiffahrt mußte mit Segeln durchgeführt werden. Am 27. März drehte plötzlich der Wind, als gerade acht Schiffe bei Wangen durch den Kanal segelten. Die Segel mußten eingezogen und die Schiffe zurückgeschleppt werden. Das Eis aber drückte den Kanal zusammen und erst am 4. April war der Untersee wieder eisfrei. Durch diesen beschwerlichen Lebensmittelnachschub aber konnten sich die vereinten Heere in Frankreich behaupten, und am 20. März wurde Napoleon bei Arcis sur Aube und am 25. März bei La Fere Champenoise zurückgeschlagen. Im Jahre 1940 mußten die schweizerischen Grenztruppen zur Sicherung der Ufer ebenfalls einen solchen Kanal durch den Untersee sägen. So bieten die verschiedenen Seegfrörnen des Bodensees und Untersees nicht nur das Bild eines schönen und imposanten Naturwunders, sondern sie waren auch Ereignisse, die in Geschichte, Brauchtum und Poesie ihren Niederschlag gefunden, der historischen Wert besitzt.